Sie kommen von Norden! Erst tauchen die weißen Rahen auf, ziehen langsam über den Horizont. Die Banner stehen im Wind. Noch ist nicht zu erkennen, wer Freund, wer Feind ist….
Nein, auch wenn es ins Bild passen würde, ist hier nicht die spanische Armada und nicht die Flotte Napoleons im Anmarsch. Wir schreiben nicht das Jahr 1576, sondern auf den Großen Seen in Nordamerika findet die alljährliche United Tall Ships Challenge statt, eine internationale Segelregatta, bei der die schönsten und größten Segelschiffe der Welt ihr Stelldichein geben. Zwischen dem 30. Juni und dem 30. August segeln die Schiffe auf ihrem Weg durch sechs Häfen von der kanadischen Stadt Toronto nach Chicago in den USA. Angeführt wird die Flotte von der Denis Sullivan, einem erst zehn Jahre alten Schoner, der seit seiner Fertigstellung im Jahre 2000 als „schwimmendes Klassenzimmer“ die Great Lakes bereist. Ihm folgen weitere Großsegler, darunter auch der deutsche Zweimaster Roald Amundsen. (Auf einigen Streckenabschnitten gibt es übrigens die Möglichkeit mit an Bord zu gehen.)
Nicht gerade Tallship, aber trotzdem während dieser Zeit in der Gegend: Paulinchen. Mit ihren 31 Fuß wird aber allenfalls bei achterlichem Wind der Parasailor mit den gigantischen Segelflächen der großen Rahen konkurrieren können. Und auch im Pulk der Yachten, die die Tall Ships auf ihrem Weg vermutlich begleiten, werden wir kaum herausstechen – außer vielleicht durch Sternenbanner im Rigg und Adenauer am Heck. Ich bin gespannt, ob es jemandem auffällt. Jedenfalls hoffe ich, den einen oder anderen Blick auf diese imposanten Schiffe zu erhaschen. Vor allem aber darauf, einen Ankerplatz vor den Toren der drittgrößten Stadt der USA zu bekommen und pünktlich zum Festival am Ende der Regatta auf der berühmten Navy Pier in Chicago zu stehen.
Diesen Ort anzusteuern ist ein ganz besonderer Meilensein. – Und ich warne schon mal vor, dass ich an dieser Stelle ein wenig vom Segeln abschweife…
Ein grauer Kasten führte mich irgendwann Ende der Achtziger (oder war es schon Anfang der Neunziger?) zum ersten Mal nach Chicago. Ich war damals etwa zehn Jahre alt und von Computern fasziniert. In dem Kasten vor mir befanden sich ein 286er Intel-Prozessor, eine EGA-Grafikkarte, zwei Megabyte Arbeitsspeicher und eine zwanzig Megabyte Festplatte. Zu seiner Zeit war dieser Rechner ein Monster in der Rechnerlandschaft. Mein erster Ausflug nach Chicago begann mit dem Eintippen des Kommandos „fs3.exe“.
Etwa dreißig Sekunden später saß ich im Cockpit eines Flugzeuges, bereit, vom Meigs Airfied aus zu starten – direkt über die Navy Pier hinweg in Richtung Norden. Es sei denn, ich drehte direkt nach dem Start ab, um die imposante Skyline der Metropole zu bewundern.
Wer sich an einen Steuerknüppel traut, kann das gerne nachvollziehen. Es gibt den Microsoft Flugsimulator mitlerweile kostenlos zum Download: hier.
Auch, wenn ich dem Programm heute nicht mehr „beinahe fotorealistische Grafik und ein nahezu unfehlbar realisitisches Flugverhalten (man musste immer mit dem Bugrad zuerst aufsetzen…)“ attestieren würde. Aber damals erkundete ich monatelang die Großen Seen aus der Luft, machte mich in Echtzeit zu mehrstündigen (todlangweiligen) Flügen über eine nicht endende,und strukturlose grüne Fläche in Richtung anderer großer Städte in den USA auf – nur um anzukommen. Damals gab es keine Alternative: Ich würde Pilot werden. Doch als die Simulationen in späteren Versionen immer komplexer wurden, wurde schnell klar, dass stundenlanges Geradeausfliegen irgendwie doch nicht die Erfüllung sein könnte. Man sieht, was aus den Träumen kleiner Jungs wird. 20 Jahre später ist Meigs Airfield ein Erholungspark und ich nehme Kurs auf den Atlantik, um nach wochenlagem Geradeaussegeln erst New York und dann Chicago per Segelboot zu erreichen. Welch Fortschitt in der Entwicklung.