Bloggen ist wie Musik machen. Strophe folgt auf Strophe, Ton auf Ton. Eine kleine Nachlässigkeit genügt und schon ist man aus dem Takt. Ein guter Musiker lässt in so einem Fall unauffällig einen Ton aus, damit sein Rhythmus wieder ins Orchester passt. Ich bin nie ein guter Musiker gewesen. Bestenfalls „im Rahmen meiner Möglichkeiten stets bemüht“. Statt nun einen Sprung nach Rhode Island zu machen, versuche ich also die letzten Wochen im Schnelldurchgang nachzuliefern.
Kanada, eine andere Welt auf der gegenüberliegenden Seite des Atlantik. Willkommen im Spielfilm. Trucks, deren Zugfahrzeuge größer sind als ein normaler LKW in Deutschland, mit zwei Anhängern dahinter. Glänzende Häusertürme, breite Straßen, eindringliches Heulen von Polizei und Feuerwehrsirenen sind die äußeren Eindrücke. Das Herz geht aber auf, wenn Menschen, die mit dem Fahrrad am Liegeplatz vorbeifahren, umdrehen, absteigen und wie selbst verständlich mit „Hey! How Are you today?“ ein Gespräch anfangen. Nicht selten führt es zu Einladungen auf ein Bier, zum Lobsteressen, zum BBQ, zu Ausflügen in die Gegend und natürlich zum nächtlichen Bummel rund um Pizza-Corner, der Kneipenmeile in Halifax.
Statt gegen die Vernunft in Eile und mit provisorisch reparierter Elektrik weiter nach New York zu segeln, warte ich hier einige Tage auf Kinga. „Gemütlich den Hudson hinauf fahren“, das hatten wir geplant. Drei Wochen Sonne, Bummeln, Seele baumeln lassen. Jetzt stand für sie Atlantiksegeln auf dem Plan. Für mich aber erst einmal ein Problem mit der Bürokratie zu beseitigen:
Für die Einreise in die USA per Boot braucht man, anders als bei der Ankunft per Flugzeug, bekanntlich ein Visum. Ich hatte eines, Kinga nicht. Die Erkenntnis kam etwa zehn Stunden vor ihr bei mir an. Um sechs Uhr morgens, beim Aufwachen: Ich weiß nicht mehr, ob es erst ein Fluch und dann ein irres Lachen war oder umgekehrt. Die Feststellung jedenfalls lautete: „Ich kann sie gar nicht wieder in die USA zurückbringen“.
Im Hinterkopf bastelte ich bereits an einer Route durch den St.-Lorenz-Strom in die großen Seen. Viel Tidenstrom und viel Nebel würden uns begleiten. Beides nimmt hier Dimensionen an, die einen Mitteleuropäer leicht nervös machen können. Auch wenn ich im Yachtclub schon gelernt hatte, dass man hier die „Moisture in the air“ bestenfalls als Herausforderung sieht, aber nicht als Hindernis. Aber anders als in unseren Breiten kommt der Nebel hier selten mit Windstille. Eher sind es fünf oder sechs Beaufort, die warme Luft gegen das kalte Wasser des Labradorstroms drücken. Entsprechenden Seegang inklusive. Auf der anderen Seite dürften uns „oben rum“ jede Menge Wale und Seehunde begleiten.
Gegenüber auf der Epicurius will man genau diese Route machen. Mit 66 Fuß, Radar, AIS und 120 PS von Nova Scotia zum Lake Huron. Skipper Scott stimmt zu: Mit Paulinchen sicher eine größere Herausforderung. Sein Vorschlag: Wir segeln zusammen und er gibt uns mit seinem Radar Deckung, und wenn zu viel Strom ist, wirft er eine Trosse rüber. – Die Selbstverständlichkeit, mit der er sein Reisetempo für drei Wochen verlangsamen will, verschlägt mir kurz die Sprache..
Das Problem löste aber ein Anruf beim US-Zoll in Maine. Nach einigem Hin und Her gibt es grünes Licht und er buchstabiert mir sogar seinen Namen, falls es doch noch Probleme gibt. Wir können direkten Kurs auf die USA nehmen. Kingas Hinflug endete in New York. Vor dem Umstieg in den Flieger nach Kanada ist sie offiziell mit Stempel und allem eingereist. Die Rückkehr im „kleinen“ Grenzverkehr ist daher auch mit einer privaten Yacht unter deutscher Flagge erlaubt.
Nach anderthalb Tagen an der Kreuz wandern die letzten kanadischen Dollars in die Kasse des Supermarktes von Shelburne, dann geht es in die USA. Drei Tage über den Golf von Maine. Dreiviertel davon im dichten Nebel, die Hälfte an der Kreuz, die andere in Flaute unter Motor.
Auf der anderen Seite erhebt sich irgendwann langsam eine Säule aus dem Meer. Symbolträchtiger hätte sie kaum sein können: Das Pilgrim Monument in Provincetown. Symbol für den ersten Stopp der Mayflower an dieser Stelle im Winter 1620. Zusammen mit dem zweiten Stopp am Festland, dem heutigen Plymouth, gilt der Ort als eine Geburtsstätte der „Neuen Welt“.
Versuche, die Hafenbehörden per Funk zu erreichen, schlagen fehl, an den Moorings und Stegen ist es voll. Wir machen an der erstbesten Stelle fest. Die Regeln sind eindeutig: Als Skipper darf nur ich das Boot verlassen, um die US-Customs über unsere Ankunft zu informieren. Der Schritt an Land fühlt sich weich an, der Beton der Kaimauer strahlt die Wärme des Tages ab. Nur drei Tagesreisen braucht es in eine Welt, in der das neblige Nova Scotia Millionen Kilometer entfernt scheint. Das Hafenbüro ist verschlossen. Jemand sieht mich suchend herumstehen: „Der Hafenmeister kommt gleich wieder, der holt sich nur ein Stück Pizza zum Abendessen“, erfahre ich.
Zeit zum Durchatmen. Trubel, Menschen, die zum Fähranleger eilen, wo schon die Schnellfähre nach Boston mit laufenden Motoren wartet. Die Strände sind leergefegt, es ist zwanzig Uhr. Das Gedrängel an der Pier unter noch immer glühender Abendsonne erinnert an Flucht. Flucht vor zu viel Freizeit. Morgen ist Montag, Bürotag für die meisten der Touristen, die hier bis zur letzten Minute fernab der Großstadt ihr Wochenende verbrachten.
Ich suche nach einer beschreibenden Analogie. Etwas, das einen Ort beschreibt, für den es in meinem Wortschatz noch keinen Begriff gibt. Ich finde nichts. Wieder einmal muss Hollywood dafür herhalten. Flipper hätte hier gut ins Wasser gepasst. Die Holzhäuser im Sand, jedes mit großer Veranda, Gauben und Balkonen erinnern an „Two and a half man“. Es gibt kaum Küstenschutz, nur eine flache Düne vor dem breiten weißen Strand, dahinter beginnt Provincetown. Weniger als drei Minuten zu Fuß und ferner als ich dachte.
Der Hafenmeister fährt ein Golfcaddy, das Handfunkgerät liegt im Handschuhfach. Er hat keine Idee, was er mit mir machen soll: „Erstmal willkommen in Amerika, hier kam noch nie ein Boot aus Übersee an.“ An dieser Stelle hätte ich misstrauisch werden sollen, aber im US Coast Pilot steht doch: „Provincetown hat eine Zollstation“.
Im Hafenbüro darf ich das Telefon benutzen. Man verbindet mich mit dem Zoll, fragt Daten von Schiff und Crew ab. Freundlich, in lockerem Ton. Der Hammer kommt später: „Gut, nun haben wir nur ein Problem: Es kostet 3.000 Dollar Strafe die USA illegal zu betreten.“. Ich weise auf den Eintrag im NOAA US-Coast-Pilot hin. Die leicht barsche Antwort: „Customs Station does not mean Port of entry.“ Nur, dass ich direkt drei Minuten nach dem Festmachen anrufe und bestätige, dass niemand das Boot verlassen hat, stimmt etwas gnädig. – Keine Strafe. Der Ton wird entspannter. Ich frage, wo wir hin sollen und erfahre, das Plymouth am dichtesten wäre. 25 Meilen durch die Nacht. Den Hafen hatte ich auf der Karte schon gesehen, jede Menge Sandbänke und ein Fahrwasser im Zickzack – tolle Aussicht. Wieder Nachsichtigkeit am Telefon. Der Beamte bietet an, dass wir eine Mooring nehmen und am nächsten Morgen rüber segeln. Allerdings dürfen wir nicht von Bord gehen, nichts von Bord geben und auch nichts annehmen. Die gelbe Flagge bleibt natürlich im Rigg.
Eine Frau stürmt in das Büro: „Ist das Dein Schiff da drüben?“ diesmal klingt der Ton gar nicht freundlich. Ich soll „zusehen zu verschwinden, das ist ein privater Anleger“. Ich entschuldige mich für die kurze Unterbrechung ins Telefon und dann zu ihr.
„Drei Minuten und wir sind weg, ok?“
„Nein. Und erkläre das meinem Mann, der ist stinksauer.“
Auf Durchzug schalten kann ich auch. Beende in aller Ruhe mein Telefonat mit dem Zoll und gehe hinter ihr her zum Anleger. Dahinter dreht ein kleiner zur Yacht umgebauter Trawler im Hafenbecken bedächtig Kreise. Aus dem Fenster lehnt ein Mann, brüllt etwas Unverständliches und schüttelt demonstrativ den Kopf. „Er ist sehr sauer, wir waren drei Tage durchgehend auf See“, fügt seine Frau hinzu. Ich sehe sie an, bin bemüht, einen schuldbewussten Blick über das Mitleid zu legen. Dann löse ich den Festmacher schaue auf meine Flagge am Heck und sage nur „Wow, echt drei ganze Tage?. – Muss eine weite Reise gewesen sein“. Ihre Antwort verhallt im Starten des Motors.
Fünf Minuten später liegen wir an einer Mooring vor Priovincetown. Die Nacht kostet 45 Dollar und wir dürfen nicht einmal zum Duschen an Land oder die stinkenden Müllbeutel aus der Backskiste entsorgen.
Was uns entgeht ist ein Unikum in den USA. Ein Kiez in brüllender Hitze, der an Partymeilen von Bangkok erinnert. Menschen in Shorts und T-Shirts schlendern auf und ab. Schwer zu sagen, wer Männlein, wer Weiblein von Geburt an ist oder es erst später wurde. In den Bars ist es viel zu heiß, die Party findet um diese Jahreszeit draußen statt. Unter dem Pilgrim Monument, das wie ein Phallussymbol über dem Zentrum der US-amerikanischen Schwulen- und Lesbenszene thront. Diven und Tunten tanzen auf den Straßen zu Techno und Rock und über jedem Club weht eine Flagge in allen Farben des Regenbogens… Aber all das bleibt uns in dieser Nacht verborgen, während wir an Bord sitzen und der Musik nur von weitem zuhören können.