Speed up, slow down, turn over

Speed up, slow down, turn over

New York, Hudson und ein gutes Stück vom Kanal sind geschafft. Ich bin in den USA – Binnen! Segelboote gibt es hier wenige. Jollen hin und wieder, aber die meisten kommen mir mit gelegtem Mast unter Motor entgegen oder ziehen mit mir in Richtung der großen Fünf.

Hinter New York geht es im Takt der Tide weiter. Drei bis vier Knoten gegen die Tide, sechs bis sieben mit ihr. Was mich erwartet, hatte ich schon von New York aus sehen können: Berge, steile Hänge, dichte Urwälder. Was neu ist: Adler, Lachse, Mücken. Eine trügerische Idylle: Fischen ist verboten. Eine Kabelfabrik, weit im Norden hat dem Fluss ein Erbe mitgegeben. Das Werk ist längst geschlossen, doch überall stehen Schilder am Ufer: „Catch and release fishing only!“ Die Fische im Fluss sind hochgradig mit PCB belastet. Besonders jetzt, wo oberhalb von Tory der Fluss ausgebaggert wird und giftiger Schlamm auf die Reise zum Atlantik geschickt wird.

Nach drei Tagen River wird Paulinchen „enthauptet“. Sieben Meilen vor Albany lege ich den Mast, nehme Kurs auf den Kanal. Der Strom wird unerwartet heftiger. Regen seit zwei Tagen. „Etwas stimmt nicht“, geht mir vor Tory durch den Kopf: Die Tide ist gekentert, das Wasser steigt. Ohne Stillwasser und selbst jetzt stehen noch immer mehr als zwei Knoten gegen an. Hinter Tory kocht das Wasser. „Ein kleiner Damm mit einer Schleuse markiert das Ende der Gezeiten“, ist im Revierführer zu lesen. Doch der Damm ist ein Wasserfall. Oberhalb der Schleuse: Vollgas! Sechs Knoten fahrt durchs Wasser, anderthalb über Grund. Baumstämme, dicke Äste, vertriebene Tonnen. Vielleicht man auch auf einem Fluss hin und wieder in den Wetterbericht ansehen …

Im Zeitlupentempo erreiche ich die erste Kanalschleuse in Waterford. Die Fahnen auf der Mauer wehen auf Halbmast, jemand ruft mir zu: „The locks are all closed!“. Der Anleger vor der Schleuse ist bis auf den letzten Zentimeter belegt. – Päckchenliegen, als Trümmerfänger in fünf Knoten Strom mit treibenden Bäumen und Ästen? – Nein danke. Ich ziehe an allen vorbei und mache an der kurzen Mauer direkt vor dem Tor fest.
„Es gibt keinen Landanschluss“ geht mir durch den Kopf. Dann muss ich über mich selbst lachen. In Halifax war das letzte Mal, dass ich Landstrom hatte. Überhaupt ist es seitdem das erste Mal, dass ich für länger als zum Tanken festmache. Ich bin zufrieden. Allerdings fürchtet man, dass die Mauer in der Nacht überfluten könnte. Da sonst nirgends mehr Platz ist, werde ich mit einem Motorboot nach oben geschleust. Wir sollen vor der Schleuse warten, bis das Hochwasser vorbei ist. – Fünf Tage vergehen hier.

Der Kanal lohnt den Besuch aus Europa kaum. Die Hingucker sind die Schleusen und die verfallene Industrie in Orten, deren Wirtschaft auf Fastfoodketten und „For Sale“-Schildern an den Häusern begründet scheint. Die Landschaft dazwischen findet man als Ostseesegler auch im Göta Kanal: „Schweden“, denke ich etwa alle zehn Minuten.
Die anderen zehn Minuten denke ich an den Terminkalender. Aus einem Monat Verspätung auf den Azoren sind mittlerweile zwei geworden. Bis Chicago sind es noch fast 1.000 Seemeilen und von dort zum Golf von Mexiko ist es noch einmal genauso weit. Und in sechs Wochen beginnt es hier kalt zu werden. Das ist noch zu schaffen, zumal es mit jeder Meile Richtung Süden ab Chicago wärmer wird. Aber Schnee kann es selbst noch in New Orleans geben. Wenn auch nicht bei den -30 Grad, die ich auf den Lakes erwarten darf. Ende September, so ist die einhellige Meinung der reviererfahrenen Skipper hier, sollte ich spätestens in Chicago sein. Wenn ich bis Mitte Oktober nicht südlich davon bin: Kranen, Winterlager, nach Hamburg fliegen.

Das „Speed up“-Programm bedeutet also, die Great Lakes im Indian Summer, aber auch nur im Schnelldurchgang zu sehen: Nonstop von Buffalo in den Lake Huron. – Fünf Tage, natürlich wieder gegen Strom und vorherrschende Windrichtung. Auf der anderen Seite, den Lake Michigan runter das Gleiche. Vier oder fünf Stopps, mehr „Lakes“ darf es nicht geben. Klappt das, habe ich zwar die Route geschafft, und bin Mitte September am nächsten Kanal, habe aber nichts davon gesehen. War es das, was mich in dieses Abenteuer gelockt hat? Ziele erreichen und auf Teufel komm raus meinem Zeitplan hinterhereilen? Die zweite Option heißt statt „speed up“ schlicht „slow dow“.
Anfangen Koffer zu packen, das Boot langsam darauf vorbereiten einen kalten Winter lang irgendwo unter einer Plane zu verbringen. Alles Wertvolle in einem frostsicheren „Self Storage“ in Buffalo oder Cleveland einlagern und mit den letzten Kröten ein Flugticket nach Hause für den Winter buchen. Auch das hat Vorteile: Einige Monate Geld verdienen schadet sicher nicht. Wohl ist mir dabei allerdings nicht. Die Reise zu unterbrechen war nur für Notfälle und Messebesuche in Deutschland vorgesehen, nicht für Winterpausen.

Owen, den ich an einem kleinen Steg 60 Meilen hinter Waterford kennenlerne, hat Option drei parat: „Turn over“. Umkehren. Zurück Richtung Atlantik. Von dort aus den Inter Coastal Waterway hinunterbummeln, bis die Hurrikansaison im November vorbei ist und dann den Winter zwischen Florida und den Bahamas verbringen. „Key West zu Neujahr“, klingt nicht schlecht. Umsonst ist dieser Plan aber auch nicht: Er kostet mich ein ganzes Jahr. Im März würde ich wieder gen Norden starten, den Sommer auf den Lakes verbringen und zum Winter in die Karibik starten.
Mein Kanalpass ist zehn Tage gültig. Drei Tage noch, dann muss ich mich entscheiden: Weiterfahren, schnell oder langsam, oder umdrehen.


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