Eine Woche rauf, über einen Monat wieder runter. Unterschiedlicher kann man den Hudson River kaum befahren. Start- und Endpunkt der fast 400 Meilen langen Reisen ist das 79th Street Boat Basin, tagsüber ein leicht schnodderiger Hafen als rustikaler Kontrast unter der glitzernden Skyline Manhattans, nachts schwarzer Fleck in ihrem Lichtermeer.
Meine Route liegt im Trend. Kanadische Flaggen, soweit das Auge reicht. Alle sind auf der Flucht vor dem Winter, der mir die letzten Meilen folgt. Gleichermaßen als Motivation und treibende Kraft in den Segeln. Im Ebbstrom schaffe ich vor 25 böigen Knoten Wind in strömendem Regen fast dreißig Seemeilen in drei Stunden. Vorbei an den Palisaden, jenen majestätischen Klippen, die den Windkanal bilden, auf dem mich der Strom Richtung Atlantik jagt. Nasser, schwarzer Fels, der bis in die Wolken ragt. Die scharfen Kanten brechen den Wind und es ist, als ob das Flussbett mir ein „Hau endlich ab“ hinterher brüllt. Als hätte ich meine Zeit hier bereits um Längen überschritten.
Verstehen könnte ich das, dauerte die Erkundung des Flusses durch Namensgeber William Hudson vor genau 401 Jahren schließlich nur halb so lange wie meine Trödelei. Er war zehn Tage an Bord der Halve Maen dem Fluss hinauf gefolgt, bis zum heutigen Albany. Seine Beschreibungen lesen sich als wären sie aktuell. Zumindest, wenn man sich Kernkraftwerke, Siedlungen und Eisenbahnen wegdenken kann. Und man muss sich den undurchdringlichen Wald vorzustellen, der Manhattan Island bedeckt. Am 23. September 1609 ließ Kommandant Hudson umdrehen, obwohl er dem Fluss noch etwas weiter hätte folgen können. Schon einen Monat später erreicht er die englische Küste. Vielleicht hat ihn ein „Norder“ erschreckt und zur Eile angetrieben. Einer dieser kalten Winde in Sturmstärke, die aus der Arktik über das flache kanadaische Binnenland fegen und erst weit im Süden der USA von feuchtwarmer Luft mit Gewittern gestoppt werden. So einer, wie der, der mich jetzt nach Süden jagt.
Der Wald auf Manhattan ist gerodet und an seine Stelle sind Hochhäuser getreten. Aus der Ferne ähnlich undurchdringlich, aber durch ein Schachbrettmuster von Straßen durchzogen. Fünf Minuten vom Hafen entfernt bietet nach dem Ankommen das Starbucks Café an der Ecke Broadway und 81 Schutz vor Wind und Regen.
Mir bleibt nur, das Wetter abzuwarten und mich umzusehen. Was hat der rasende Pulsschlag der City in einem Monat bewirkt? – Auf den ersten Blick nicht viel: Die meisten Baustellen sind noch unverändert. Einige Reklameschilder tragen neue Gesichter, vielleicht sind auch neue Kleider darauf zu sehen. „Mein“ Starbucks wurde renoviert: Neue Tische, neue Stühle, neuer Tresen.
Die Steckdosen sind geblieben und man muss noch immer einen Rucksack darunter stellen, damit das Steckernetzteil vom Laptop nicht herausfällt. Absicht des Betreibers, wie ich denke: Das Fluchen über die Technik schafft Gesprächsstoff und schlägt Brücken zwischen sonst anonym kaffeeschlurfenden Internet-Junkies. Auch die Gesichter sind großteils dieselben. Man kennt sich nicht, aber man erkennt sich. Ein nicken zur Begrüßung zu und ein „see you“ beim Gehen, wenn man einige Tage nebeneinander arbeitet.
Draußen hat sich New York seit dem Sommer mehr verändert. Die Stadt ist leerer geworden, leerer und ruhiger. Das Ende der Schulferien brachte auch das Ende der Urlaubssaison. Auf dem Times Square kann man frei entscheiden, in welche Richtung man gehen möchte, statt dem amorphen Fluss der Menschenmasse folgen zu müssen. Aber wohin soll man gehen?
Wie beim ersten Besuch versuche ich alles, was in Touristenführern steht zu vermeiden. Das mache ich immer so. Vielleicht bin ich naiv, wenn ich den Autoren dieser Bücher blind vertraue. Aber warum soll ich mir noch einmal ansehen, was sie mir detailliert beschreiben? Lieber bin ich einfach nur „da“. Atme die Stadt und beobachte die Menschen. Versunken im Versuch zu erleben, wo ich bin. Statt zwei Stunden auf einen Ausblick vom Empire State Bildung zu warten, den ich in jedem New York Buch finde, sitze ich auf einer Parkbank.
Manche dieser Bänke liegen im Einzugsbereich eines öffentlichen WLAN und werden so für den Reisenden zur Brücke nach Hause. Dann haben sie sogar hin und wieder Steckdosen. New Yorker brauchen Steckdosen. Überall. Sowie sie irgendwo verweilen, suchen sie nach einer Möglichkeit, um Blackberry oder iPhone wieder mit Leben zu füllen. Tippen unentwegt drauf rum und schauen nur zwischen den Nachrichten ihren Gesprächspartnern in Gesicht.
Internet, Facebook, E-Mail und Co scheinen Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens in dieser Stadt zu sein. Während mir die Deutsche Welle abends knisternd per Kurzwelle berichtet, dass jeder fünfte deutsche Haushalt aus Kostengründen auf einen festen Internetanschluss verzichtet, sitzen hier Obdachlose, die aus einem Einkaufswagen leben mit ihrem Notebook auf der Parkbank.
Manhattan hat aus der Ferne betrachtet, und von Hollywood gesteuert, ein Image von Hochhäusern, Glitzer und Glamour. In den Straßen überwiegt der „Used look“ der Stadt. Es ist nicht dreckig, nicht heruntergekommen, nur abgenutzt. Als hätten Generationen von New Yorkern hier gelebt und ihre Laufstraßen im Teppich hinterlassen. Ich streife durch die Häuserschluchten der mir bekannten Kinokulisse der 80er Jahre, aber es sind nicht die Hochhäuser, die die Stadt ausmachen. Es sind die Menschen darin, die vielfältiger und bunter kaum sein könnten. Und es sind die orangefarbenen Taxen. Sie gehören in diese Kulisse und sie stören das Bild. Denn anstelle der klassischen Limousinen rücken mehr und mehr Pseudogeländewagen und Minivans mit Hybridantrib an ihre Stelle. Ein Stilbruch, den man mit Blick auf die Umwelt schmerzlich verzeihen muss. Trotzdem freut man sich jedes Mal, wenn eines der klassischen Taxen nebenan an der Ampel hält.
Die Taxen sind der Puls der Stadt, ununterbrochen unterwegs, vierundzwanzig Stunden am Tag. „Eine Betriebsversammlung aller New Yorker Taxifahrer“,so erzählt mir einer der Fahrer, „würde jeden denkbaren Parkplatz sprengen.“
Also versammeln sich nicht, sondern verteilen sie sich nach den Gesetzen eines idealen Gases über das Häusermeer. Wie Blutkörperchen im Adersystem füllen sie jede Straße und streifen durch jeden Winkel, um ihre Aufgabe zu erfüllen: Die Menschen in Bewegung zu halten. Sie machen die geheime Kraft, die in Aussprüchen wie „The City that never sleeps“ beschreibt, greifbar.
Die Energie überträgt sich sofort auf den Besucher, ergreift Besitz von ihm. Man ertappt sich dabei, immer weiter zu machen, nie mehr stoppen zu wollen. Man vergisst das Essen, das trinken und das Schlafen, beginnt eine Suche. Jagt nach dem Besonderen, das die Stadt unausgesprochen jedem verspricht. Es muss irgendwo zwischen den Laternen der Nacht oder im Schatten der Tower zu finden sein. Ruhe, wird zum Ausdruck für Versagen auf dieser Suche. Darum scheint jeder ist auf dem Weg zu Etwas zu sein. Niemand kommt irgendwo her und der Weg nach Hause wird nur eingeschlagen, weil man am nächsten Morgen sehr früh los muss.
Diese Energie übt eine gigantische Anziehungskraft aus und macht New York zu einem internationalen Schmelztiegel der Kulturen. Die City ist gleichzeitig weniger Amerika, als sie sich gibt und zur Verkörperung des amerikanischen Selbstverständnisses. Denn Amerika ist nur ein Teil von New York. Es liegt in ihr, Tür an Tür mit allen asiatischen Kulturen, einen Häuserblock von Südamerika und Afrika.Sie vermischt alles und akzeptiert alles.
Ich treffe Freunde vom ersten Besuch und schließe neue Bekanntschaften. Die wenigsten sind gebürtige Amerikaner, meist kommen sie aus Asien, aus Indien. Es sind Dänen und Deutsche. Zusammenzufassen, was sie nach New York brachte, ist unmöglich. Zu vielschichtig sind die Motivationen. Aber einwenig beneide ich die, die hierbleiben können. Die hier für ein Jahr studieren, die eine Ausbildung machen oder einige Jahre arbeiten. Es sind junge Leute, die die Stadt am Laufen halten. Denn New York ist kein Ort zum alt werden. Irgendwann will jeder weiterziehen, weil er gefunden hat, was er suchte oder weil es sich als ein Luftschloss entpuppte.
Nach anderthalb Wochen muss ich mich zwingen, die Suche aufzugeben. Beim letzten Frühstück auf dem Hudson spüre ich Eile aufsteigen: „Es wird kalt“, denke ich und ziehe eine Jacke über. Dann muss ich lachen: „… fünfzehn Grad, fast so kalt wie letztes Jahr im Juli auf der Ostsee.“
Ich kam bei meinem ersten Besuch voller Erwartungen und hatte bereits mehr Bilder im Kopf, als beim Verlassen anderer Orte auf dieser Reise. Der erste Blick auf die Freiheitstatue war schön, die Skyline imposant, das Empire State Building überragend. Und bei der Abreise? Da überschatten andere, persönliche Eindrücke: Eine nächtliche Taxifahrt durch die verregneten Straßen, wenn endlos Türme wie beleuchtete Gerippe vorbeiziehen. Oder im Lichtermeer der Skyline zur Mooring zu fahren. Das Schwarz des Hudsons, in dem sich die Stadt spiegelt. Nicht zuletzt sind es die Gesichter von neuen Freunden, die ich irgendwo auf der Welt vielleicht wiedertreffen werde. Es sind Bilder, die mich vorbei an Liberty Island hinaus in die Lower Bay begleiten und in meinem Kopf die Kinokulisse „New York“ ersetzt haben.