Aufbruchstimmung

Vor einem Jahr im Logbuch: 17. März 2010, 08:30 – An Bord der Timeout gegenüber im Hamburger Sportboothafen dröhnt ein Horn, viele Hände winken am Steg. Der ‚Blaue Peter‘ weht bereits seit gestern im leichten Westwind unter meiner Saling.
Ein letzter Wintermorgen, dann kommt hoffentlich der Frühling. Reifbedeckte Stege und Temperaturen um zwei Grad begleiten Paulinchen aus der Hansestadt. Elbabwärts, zum ersten Schritt einer langen Reise. Kein Einhandstart, ich habe Besuch an Bord. Kinga begleitet mich auf dem Weg zur Nordsee. Ich bin sehnsüchtig nach dem, was dahinter wartet. Eile dorthin zu gelangen kommt trotzdem nicht auf. Zwanzig Meilen rüber nach Stade. Mehr fordere ich von diesem Tag nicht.

Die Spur kleiner Punkte auf dem GPS ist seitdem auf 6.772 Seemeilen angewachsen. Der Atlantik ist überquert, das Ferne ist heute nahe und der Ausgangspunkt der Reise ist zuweilen sehr fern geworden. Der erste Winter in der Karibik neigt sich gerade dem Ende zu. Die Aufbruchstimmung von vor einem Jahr ist etwas gedämpfter, aber die Zeichen stehen dennoch auf Weiterfahrt. Nach Norden zurück, an die US-Küste. Dort ist der Winter noch nicht vorbei. Nächtliche Höchstwerte um acht Grad erscheinen mir heute jedenfalls bitterkalt.

Vor 365 Tagen war das anders: Eine Landschaft im Aufbruch zum Frühling zog an uns vorbei. Kalt war es, so kalt, das jeder Sonnenstrahl ein Lächeln der Erleichterung ins Gesicht zwang. – Norddeutschland war gerade aufgebrochen, zu einem Weg aus einem viel zu langen Winter in den Sommer.
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Ein Fischkutter zog durch die Elbe. Wie die Schwingen eines Kranichs hingen seine Netze seitlich in den morgendlichen Nebelschwaden über dem Wasser. Für mich ist er zum Sinnbild dieses Abschieds aus Deutschland geworden. Die Nacht davor lagen wir einsam an einem Dalben im Vorhafen von Glückstadt. Es gab noch keine Stege, das letzte Eis taute gerade oberhalb der Schleuse im Binnenhafen. Hier und da begegnete uns auf dem Weg ein Boot. Viele, wenn es am Ende fünf Segler zwischen Hamburg und Cuxhaven wurden.

Die Einsamkeit gab bereits das Gefühl von Neuem. Längst segelte ich in Gedanken außerhalb europäischer Grenzen. Den Kopf voller Bilder und trotzdem keine Vorstellung, was mich genau erwarten würde. Neugierde ist eine mächtige Triebkraft, Erwartungen hingegen sind gefährlich. Es besteht die Gefahr, das sie zu hoch ausfallen und die Neugierde in Enttäuschung wandeln.
Jede Meile im Kielwasser wuchs zu weit mehr als einem Elbtörn. Mit dem Passieren des Airbuswerks in Hamburg-Finkenwerder begann bereits die Weltreise.

Das ich diesen Text ein Jahr später im Windschatten einer kleinen Insel auf den Bahamas schreiben würde, daran konnte ich nicht denken. Zu speziell, zu punktuell wäre das gewesen. Meine Gedanken lagen im Nebel der großen Ziele. Ich hatte ein Bild vom Einlaufen in New York. Alles Weitere auf der „anderen“ Seite des Atlantiks war schemenhaft.
Verborgen, wie die die Schönheit der Marschen hinter den Deichen des Elbdvorlandes bei Brunsbüttel. Kein Segler kann sie kennen, solange er nur dem Fluss folgt, ohne anzulegen.
Die andere Seite des Ozeans ist inzwischen „diese“ Seite. Der Weg dahin zeichnete sich in meinen Gedanken konkreter ab: Da waren Bilder von der bevorstehenden Atlantiküberquerung und dem Ärmel-Kanal. Kräftiger Tidenstrom, der, mal bremsend, mal schiebend, mich irgendwann in die endlose Wüste aus Blau führen sollte.

Natürlich waren Ängste an Bord: Da war eine Perlenschnur von Frachtern, die bedrohlich Positionslichter in dunkle Nächte reckt. Ich würde ihnen nur die Müdigkeit nach Tagen auf See entgegensetzten können. Im Takt meiner Eieruhr müsste ich Kurse und Ausweichmanöver durchführen. Gigantische Wasserberge häufte meine Phantasie im Atlantik auf. Und ließ sie über mein Segelboot hereinstürzen. Oder, zumindest über das nur winzige Freibord hinwegwaschen. Bilder, die mich eine Weile vom Ablegen abhielten.
Es sind diese Ängste, die uns in Häfen halten, nicht die Realität. Die Perlenschnur war, was sie namentlich vorgab zu sein: Aufgefädelt und selten näher als vier oder fünf Meilen. Die Wasserberge stürzten nicht, sie trugen. Das Vorschiff war stets unter Wasser an Tagen mit acht Windstärken, wenn graues Wasser kontourlos in grauen Himmel überging. Aber es rauschten nur wenige Wellen bis ins Cockpit. Eine traf uns unvorbereitet, legte Strom und allerlei Ausrüstung lahm. Doch eine bedrohliche Situation wollte nicht daraus entstehen. Weil wir nicht den Raum dafür freigegeben haben. Das Boot blieb unter Kontrolle. Der Atlantik ist weit, da kann man zwei drei Tage grob nach Nordwesten Segeln und in aller Ruhe Reparaturen machen. Und im Nachhinein? Über die Bilder der Ängste haben sich längst andere Eindrücke geschoben: Das Auf und Ab in alter, unendlich lang scheinender Dünung eines fernen Sturmes. Hügel inmitten des Wassers, die zehn Meter hinaufführen und einen Fernblick auf ein Meer aus weiteren Hügeln zwischen tiefen Tälern freigibt. Sekunden später geht es diese Dünen rauschend bergab. Unten schnürt sich der Horizont im wahrsten Wortsinn über einem und um einen herum in wenigen hundert Metern zusammen.
Nicht die Momente der Angst blieben nach einem Jahr auf See, Flüssen und in fremden Ländern. Es sind die Momente des Genusses.

Der entsteht, wenn es gelingt, gleichzeitig erwartungslos und gespannt auf Neues zu sein. Auch mit Blick auf die kommenden Monate im US-Binnenland ist das wichtig. Diese Einstellung bremst zuweilen das Vorankommen, so wie jetzt gerade mal wieder. Denn der Antrieb zum Weitersegeln ist „Genug gesehen“. Und dieses Gefühl muss wachsen.
Mit der Vielzahl der besuchten Orte ist längst Gewissheit entstanden, nie alles sehen zu können. Ich habe Crews getroffen, die darauf mit Hektik antworten. Die ein Revier mit einer Liste von Orten, die laut Reiseführer unbedingt sehenswert sind, kennenlernen wollen. Damit geht aber einher, Aufenthalte zu planen: „Drei Tage für Nassau, drei für die Exumas, zwei für Georgetown und dann schnell zurück…“ Andere gewinnen aus dieser Unmöglichkeit, alles zu sehen, Gleichmut. Ruhen zufrieden in einer Bucht, die ihnen gefällt, bis das Trinkwasser alle ist. Die Stopps entscheiden sich spontan, gefällt es nicht, werden am nächsten Morgen wieder die Anker gelichtet. Wo Eindrücke wirken wollen, bekommen sie dazu Zeit. Denn Zeit bleibt auch bei dieser Art zu reisen ein bestimmender Faktor: Aber geplant wird die begrenzte Zeit, für das Dazwischen, nicht die für das Bleiben. Die Etappen müssen länger werden, wenn ein Ort lange gefallen hat.
Das Erlernen dieser Einstellung entlang meiner Route hat gedauert. Das Loslassen von Deutschland fiel noch relativ leicht, zu sehr lockte die Ferne. Doch die war im englischen Falmouth, spätestens aber auf den Azoren, erreicht.

Das Locken und die Neugierde sind noch immer Triebkraft. Womit ich nicht rechnete, das Vorankommen seit dem auch Abschiednehmen heißt. Denn auch das ist aus der Erkenntnis, nie alles sehen zu können, eine Realität des Fahrtensegelns: Die meisten Orte, die man besucht, sieht nie wieder.
Ende dieses Jahres werde ich in Mobile am Golf von Mexiko den nächsten Offshore Törn vorbereiten, mit dem Ziel Kuba und der südlichen Karibik. Der kleine Felsen Rose Island, mit seiner, alle zwei oder drei Tage für einige Stunden geöffneten, Beach-Bar „Sandy Toes“, liegt dann auf der anderen Seite Floridas. Erreichbar, aber im Angesicht des Neuen vor dem Bug nicht mehr lockend.
Daher ist es wichtig, sich Zeit für Abschiede zu nehmen. Denn wer das unterwegs verlernt, hat zuvor verlernt, an einem Ort überhaupt anzukommen. Freundschaften werden oberflächliche Begegnungen und der Mensch reduziert sich auf seine Funktion an Bord. Denn ohne Ankommen gerät die Reise zum Mechanismus. Ist das Vorankommen allein die Motivation, ist der Segler nur die Maschine, die das Boot auf seiner Reise bedient.

Ich werde Rose Island in den nächsten Tagen den Rücken kehren. Es wird Abschiede geben: Von Peter, dem „Einsegler“, der vor zwölf Jahren nur für einen Winter in die Bahamas segelte und blieb, auf dieser Insel ohne Strom und Wasser. Von dem Katamaran Dances with Dolphins, der hier trotz kanadischer Flagge inzwischen , wie ich, beinahe den Status „einheimisch“ erworben hat. Ich werde dem morgendlichen „Thank you Nick from Paulinchen“ im „Bahamas Air Sea Rescue Weather Net“ auf Kanal 72 ein „and good bye, I hope to see you again someday“ hintenangestellt haben. Zum Tanken und für einen letzten Einkauf geht es dann noch einmal in die Hauptstadt. Gut möglich, dass ich dort auf den deutschen Kat Avalon treffe. Wie immer gut geschützt vor Anker dicht am Ufer in einer laut Seekarte extrem flachen Ecke. Seit Jahren schieben sich seine dunkelgrünen Rümpfe durch das Türkisblau der Bahamas. „Genug gesehen“, hat sich wie es scheint auch dort eingestellt. Die Gedanken an Bord kreisen inzwischen nämlich durch den Pazifik. Vielleicht gibt es doch ein Wiedersehen.


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