Eins, zwei, New York

Wieder einige hundert Meilen im Kielwasser und nur noch wenige Tage von dem Punkt entfernt, an dem ich im vergangenen Herbst den Weg in den Süden angetreten habe. Bald wird es dann auch wieder etwas übersichtlicher auf der Google-Map mit meiner aktuellen Position.

Thomas Point Lighthouse, Maryland, Chesapeake Bay
Thomas Point Lighthouse

Die Chesapeake Bay entlang nach Süden zu „bummeln“ habe ich drei Etappen durchgehalten. Buchtenbummeln und Tagestörns sind eben einfach nicht meine Art zu reisen. Vor dem historischen St.Mary’s City, der ersten Hauptstadt des Bundesstaates Maryland, geht um sechs Uhr der Anker auf und wird gleich Seefest verstaut. Ohne weiteren Stopp ist nächstes Ziel die Mündung des Hudson Rivers.
Die Chesapeake Bay bleibt mit etwas bitterem Beigeschmack im Gedächtnis. Bei Südwind um 15 bis 20 Knoten segelt man recht „ijsselmeerlike“ gegen kurze steile Seen, und auch alle sechs Stunden gegen ein bis zwei Knoten Strom. Kabbelwasser, immer wieder bremst es Paulinchen auf Geschwindigkeiten nahe des Stillstands herunter. Was zwölf Stunden dauern sollte, brauchte am Ende etwas über 24. Die bleibende Erinnerung an diesen Törnabschnitt bildet zudem die Narbe einer kleine Platzwunde an der linken Augenbraue. So klein, dass es keinen Zweck hätte deshalb irgendwo anzuhalten.
Statistisch bin ich damit hoffentlich für die nächsten elf Jahre wieder sicher vor schnell überkommenden Großbäumen. Der Zwischenfall hat aber auch an etwas eingeschlafene Sicherheitsgedanken erinnert: mit der Wucht einer Halse statt einer Wende oder etwas mehr Richtung Hinterkopf, hätte ich gute Chancen gehabt, im wahrsten Wortsinne in der Statistik unterzugehen: Bewusstlos ohne Weste über Bord, irgendwann irgendwo angetrieben.
Die Lösung kann nur bedeuten, wieder mehr auf Lifebelt und Lifeline zu achten. – Auch im Cockpit.
Kurz nach Sonnenaufgang schubst mich der beginnende Ebbstrom aus der Bay. Zum dritten, und hoffentlich letzten Mal auf dieser Reise, passiere ich das gigantische Bay-Bridge-Tunnl-System. Im Licht des Tages ein nüchternes Bauwerk. Eine Autobahn auf Stelzen, die die fast 20 Meilen breite Mündung überquert. Kein Vergleich zur eindrucksvollen Perlenkette aus tausend Lichtern bei einer nächtlichen Passage. Aber hinter ihr beginnt endlich der Ozean. Das dunkelbraune Flusswasser wird grün, dann, Meile um Meile, langsam tiefblau.

Gewitterwolke über Solomons Island im Anmarsch
Gewitterwolke über Solomons Island im Anmarsch

Der Südostwind füllt die Segel, mit sechs bis sieben Knoten segele ich gen Nordosten. Weg von der Küste, weg von den, seit Wochen jeden Nachmittag über dem warmen Land blumenkohlartig aufsteigenden Wolken.
Laut US-Medien liegt die US-Ostküste unter dem Einfluss einer Hitzewelle. Abgesehen von den ungewöhnlichen vielen und heftigen Gewittern der letzten beiden Monate war es demnach deutlich zu warm und auch zu trocken. Für die Tag vor mir auf See, sind über Maryland und New Jersey über 40 Grad Celsius angekündigt. Bei Luftfeuchtigkeiten von 60 bis über 80 Prozent. Tropenklima, wo vor acht Wochen noch beinahe Nachtfrost herrschte. Und ein Garant für weitere Gewitter und nächtliche Squalls auf dem Atlantik.
Weiter draußen bewundere ich die Wolken mit anderen Augen. Ihr Aufquellen ist nicht mehr Symbol für eine herannahende zerstörerische „Stromcell“, sondern Naturschauspiel. Denn tatsächlich gehören Gewitter am Ankerplatz zu den beunruhigendsten Momenten meines Fahrtenseglerlebens. Interessanterweise allerdings immer nur, bis zu dem Moment, in dem das Unwetter „endlich“ über einem ist. Dann wird man andächtig, schaut gebannt zu und wartet, ob die Vorbereitung auf Sturmböen und drehende Winde ausreichend war oder nicht.
Auf dem offenen Atlantik sehe ich einer Gewitterzelle hingegen schon in der Ferne mit dieser Neugier zu. Das dunkle Grau wird zum Gegner, den es auszutricksen gilt. Man kann es vor sich passieren lassen, versuchen aus seiner Zugbahn zu segeln und wenn alles nichts hilft: Den Motor starten, die Segel bergen und mitten hindurch fahren und nach zehn Minuten von seiner Rückseite hinterherrufen: „Ausgetrickst!“.
Am Ankerplatz hingegen sitzt man unter seiner Sprayhood, hat bestenfalls einen Tee in der Hand und zu schaut tatenlos zu. Wird es richtig heftig, entlastet man mit eingekuppelter Maschine den Anker und hofft, die Flunken der Boote vor einem haben guten Halt.

Gewitter bei Nacht
Gewitter bei Nacht

Die Angst vor einem Blitzschlag ist an beiden Orten gleichermaßen an Bord. Paulinchen besitzt so gut wie keinen Blitzschutz. Bis heute habe ich noch kein System gefunden, das zum nachträglichen Einbau geeignet ist und den Eindruck auf mich macht, zu funktionieren. Angesichts der Heftigkeit der Unwetter in der Chesapeake Bay ist dieser Eindruck inzwischen zudem eher gewachsen. – Wenn es passiert, dann passiert es. Ein direkter Treffer ist eher unwahrscheinlich, aber höchstwahrscheinlich der Letzte.
Meine Einstellung bezüglich Gewitter hat sich seit der Abreise deutlich geändert. Noch immer bin ich vorsichtig: In der Regel bin ich der Erste, oft der Einzige, der bei aufziehenden Unwettern die fünf Minuten Arbeit investiert, einen zweiten Anker auszubringen. Dreht der Wind um 180 Grad und nimmt dabei um vier Windstärken zu, sehe ich meistens aus dem trockenen Niedergang zu, wie andere in strömendem Regen ihren Anker neu einfahren.
Ich habe gelernt, mich anzupassen. Vor allem aber, davon auszugehen, dass das Wetter einen Tick heftiger wird, als es aussieht. Das schafft, anders als die Einstellung „Vielleicht wird es ja nicht so schlimm“, Reserven. Diese Vorsicht ist sicher ein Überbleibsel der regelrechten Panik, die mich bei den ersten wirklich heftigen Gewittern vor Anker ereilt hat. Es braucht vielleicht 25 Grad Lage und einen Meter hohe Windsee in einer eben noch vollkommen windstillen Bucht, diese Panik zu Respekt werden zu lassen. Sofern die Einsicht der eigenen Ohnmacht gleichmütig, nicht gleichgültig, macht, lohnt der Prozess. Sich vorzubereiten bleibt oberste Pflicht. Nach weit über 10.000 Seemeilen auf dieser Reise bin ich aber auch weit genug gekommen, um glücklich zu akzeptieren, wenn ein Punkt kommt, an dem nicht es nicht weiter gehen wird. Gleichmut aus Ohnmacht bedeutet aber nicht, diesen Moment zu erwarten. Denn der Respekt davor verlangt, diesen Tag mit allen Mitteln herauszuzögern.

Beinahe bedaure ich, den guten Wind, der mich laut GPS in nur 35 Stunden bereits vor die Mündung des Hudson Rivers bringen wird. Die Gedanken dieser zwei Tage auf See beschreibe ich in einer Positionsmeldung, die auf dem Weg Richtung Webseite leider verlorenging:

29.5.2011, 19.05 UTC – 38° 48.87N 074° 15.40W
Irgendwo querab liegt Cape May in etwa 30 Meilen, unsichtbar hinter tiefblauem Horizont. Nur noch einhundert Meilen bis New York. Seesegeln vom Allerfeinsten. 5.500 Meilen so weiter? – Ich bin dabei! Zwischen Bermuda und den Bahamas hindurch, die Karibik rechts (pardon steuerbord) liegen lassen und etwas zu weit nach Osten ausholen. Auf dem Weg nach Kap Hoorn gibt es einen Stopp auf Ascensión, mitten im Südatlantik. Die Insel hat sich schon länger auf meinen Routenplan für das nächste Jahr geschmuggelt. Richtung Kap Hoorn liegt sie, 1200 Meilen vor Brasilien und 800 von Liberia entfernt, beinahe auf dem Weg. Jimmy Cornell schreibt über die etwa 1000 Einwohner, dass ihre Industrie auf zwei Beinen steht: der NASA- und Telekommunikationsanlagen, sowie dem Verkauf von Briefmarken. Da muss ich hin! Besser ich lege jetzt das „Seglerlexikon der Welt“ wieder weg. Erst einmal bleibe ich aber in leichter Briese auf Nordkurs. Leichter Wind achterlicher als querab, Boot nahezu aufrecht, Parasailor zieht mit knappen fünf Knoten durch die Restdünung. Die Wellen sind zu lang für ein Schaukeln, das Auf und Ab ist kaum zu fühlen. Der aktuelle Kurs stimmt nicht ganz, führt mich eher in die Gegend von Cape Cod oder Newport, Rhode Island. – Fahrtensegeln macht bequem. Direkter Kurs auf die Lower Bay, lässt das Boot dann doch etwas zu sehr geigen. Statt den Kaffeebecher festzuhalten, mache ich einen halben Tag Umweg. Zeit, die Ozeanlektüre zu verstauen und mich auf den Abschied vom Atlantik für das restliche Jahr einzustellen. Neben der Kaffeetasse wartet bereits A.G. Adams „The Hudson River in Literature“ auf andere Entdeckungen.

Am folgenden Nachmittag passiere ich Sandy Hook und laufe – nach einem kurzen Gewitter nahe der Küste – in Great Kills Harbor auf Staten Island in New York ein.


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