Kingston, New York. – Das Leben als Seefahrer ist für die kommenden Monate zu Ende. Seit einigen Tagen muss ich mir keine Gedanken mehr machen, wie ich Dinge unter Deck bei Lage staue oder an Deck gegen überkommende See festzurre. Die eiserne Genua schiebt Paulinchen mit 18 PS, statt, dass die Segel sie ziehen. Der Binnentörn im zweiten Anlauf hat begonnen.
Direkt an der Stadtgrenze New Yorks muss sich der Seesegler umgewöhnen. Der Blick in die Ferne mündet nicht mehr am weiten Horizont, sondern am Flussufer. Deplatziert und eingeengt steht man den hohen Wällen der Palisades am Westufer des Hudson gegenüber. Schroffer Fels, rotbraun in der Sonne leuchtend. Erst ein entgegenkommendes Segelschiff macht ihre Höhe greifbar. Die beeindruckende Schönheit dieser Landschaft wechselt nur Stunden vom offenen Atlantik entfernt in ein Gefühl von heimatlicher Geborgenheit.
Auf dem langsamen Weg nach Süden im vergangenen Herbst hatte ich den Eindruck, dass der Fluss eine magische Anziehung auf Künstler auszuüben scheint. Kaum jemanden, den ich getroffen habe, der nicht malt, zeichnet, fotografiert oder schreibt. Auch auf mich hatte der Fluss damals auf seine Weise gewirkt. Hat förmlich dazu aufgerufen, inne zu halten und sich Zeit für seine Details zu nehmen.
Der erste Stopp ist das kleine Städtchen Nyack, das verträumt keine 15 Meilen vom pulsierenden New York City liegt. Die Wolkenkratzer sind hier drei oder vier Stockwerke hoch, den Hang hinunter zum Fluss dominieren hölzerne Villen. Pittoresk fügen sie sich meist in fahlem Graublau in das dominierende tiefe Grün der Wälder. Farben, die jede Form von Eile aus dem Gehirn treiben.
Der Rhythmus des Flusses ist seine Tide: Eine kurze Flut mit kaum etwas über einem Knoten Strom Richtung Norden und eine lange Ebbe mit fast zwei Knoten Richtung Süden. Wer sich Zeit nehmen kann, erlebt den das Gezeiten bestimmte Revier. Ebbe bedeutet warten, Flut schnelles Vorankommen. Zeit, die nicht jeder hat. So schieben sich bereits kurz nach Sonnenaufgang die ersten Motorboote gegen den Strom. Ich erinnere mich an das Hochwasser in Waterford im letzten Jahr. Bewundernd stellte der Schleusenwärter fest, warum er Cruiser mag: Sind die Schleusen gesperrt, liegen die in entspannter Runde vor den Schleusen und veranstalten Grillpartys, während andere Skipper stündlich nach dem „Wann geht es weiter“ fragen.
Meine „Eile“ definiert sich bei fünf Knoten Fahrt durchs Wasser anders: Ich nutze die Tide für den langen Ritt über fünfzig Meilen nach Kingston. Knapp zehn Stunden lang brummt der Motor unter dem Cockpitniedergang, während die sengende Sonne erst von steuerbord nach achtern und weiter nach backbord wandert. Der Fluss schlängelt sich auf diesem Stück durch mehr als nur Landschaft. Er weicht hohen Bergen wie dem Storm Mountain nördlich von Westpoint oder dem Beacon Mountain aus und weckt Erinnerungen an schwedische Fjorde. Bei Wappinger Falls denke ich an die Marschen entlang der Oberelbe östlich von Hamburg. Doch trotz Umwegen bleibt der Kurs unverkennbar: Es geht nach Norden. Wie zur Bestätigung kommt von Achtern eine Gruppe Gänse: kanadische Windgänse. Auch im letzten Jahr kamen sie meist von achtern herangeflogen. – Auf unserem gemeinsamen Weg nach Süden.