Port Credit, Ontario – Die Ansage war vielversprechend: Live Aboard Community, Travellift, Platz an Land und weil etwas außerhalb von Toronto gelegen auch sogar bezahlbar. Also hieß das Ziel seit dem Aufbruch in den Eriekanal „Toronto“. Ein bisschen wurde das mit einem lang betonten ersten „o“ und einem ebenso lang gerollten „r“, Schleuse für Schleuse, zum Mantra.
Toooorrrrrrronto! Ich sage es beim Aufstehen, nach dem Frühstück, jedes Mal, wenn sich Schleusentore knarrend vor mir öffnen. Ein bisschen klingt es nach dem entscheidenden Tor bei einem Fußballmatch.
Den Anfang des Kanals bildet der Mohawk River und „The Flight“. Sechs Schleusen in Folge, jede zwischen fünf und sieben Metern Hub. Dahinter ist die Küste endgültig vergessen. Häuser stehen auf einmal direkt am Wasser, nur einen halben Meter über dem Fluss. Keine schützenden Deiche, keine Warften. Niemand mit Bezug zum Meer würde so bauen. Aber Hochwasser kommt hier nicht als Sturmflut. Wenn es weiter oben auf dem Fluss zu viel regnet, wird der Mohawk lediglich schneller. Die Schleusenwärter schließen dann ihre Tore und öffnen die Wehre. Das Wasser rauscht die Kanalstrecke an diesen Tagen manchmal mit über fünf Knoten durch die südlichen Airondeck Mountains. Im Normalfall dauert ein „Flooding“ drei oder vier Tage. Anschließend rücken die Boote der Kanalgesellschaft aus. Tonnen werden wieder an die richtige Stelle gesetzt und die größten Äste und Baumstämme aus dem Wasser gefischt. Nach etwa einer Woche sind die 30 Schleusen zwischen Waterfort und Oswego wieder frei befahrbar.
So ein Flooding hatte ich im vergangenen Herbst erlebt. Dieses Mal ist Petrus allerdings gnädig gestimmt. Leichter Regen lässt den Kanal an einigen Tagen mit einem halben Knoten gegen an fließen, zu merken ist das nur auf dem GPS.
Die ersten beiden Tage verbringe ich in bekanntem Revier. Bis Canajohaire bin ich den Biegungen des Mohawk Rivers bereits 2010 gefolgt. Wenige Meilen weiter besinnt sich der Kanal auf die Bedeutung einer künstlich geschaffenen Wasserstrecke. Meile um Meile geht „The Ditch“, der Graben, hier geradeaus. Alle ein oder zwei Stunden eine Biegung gegen die aufkommende Langeweile. Mal 15 Grad nach rechts, dann nach links, geradeaus.
Was bleibt, ist das Ufer. Der dichte Dschungel, der den Wasserwegs schon kurz hinter Waterford zwischen den kleinen Städten und Dörfern umschloss. Eindrucksvolle Kulissen lauerten hinter jeder Flussbiegung: Bewaldete Berge aus Schichten in grün, die sich irgendwo hoch oben in ein dunstiges blasses Blau verloren.
Die undurchdringliche grüne Mauer ist geblieben, ihre Kulisse allerdings ist verschwunden. „Oben“ angekommen fehlen im Hintergrund hervorschauende Hügel. Sehnlich wünscht man sich, den Blick auf ein fernes Ziel richten zu können. Doch wie die Leitplanke einer Autobahn flankiert das Grün den geraden Strich aus Wasser, der sich irgendwann am Horizont in Nichts auflöst. – Jede ereignislose Stunde auf diesem Kanalstück lässt das Mantra etwas lauter werden und beschwört das Ziel, näher zu kommen: „Toooorrrrronto!“
Die Stopps für die Nacht bilden Schleusen. Liegegeld wird an deren Mauern nicht fällig. Meist liegt man in unmittelbarer Nähe zu einer Güterzuglinie oder dem New York Thruway. Der nutzt ebenfalls das Flusstal für seine drei oder vier Fahrspuren pro Richtung. Den Lärm von Auto- und Eisenbahn nimmt man allerdings schon bald nicht mehr wahr, wenn den ganzen Tag lang der eigene Dieselmotor rattert.
Trotzdem stoppe ich hinter Schleuse 23 einfach nur, weil es hier nichts gibt. Das Wasser: glasklar. Das trübe, modderige Braun von Hudson und Mohawk River ist längst vergessen. Die Klangkulisse bilden Insekten, die in einem Meter Entfernung vorbeisummen. Keinen Gedanken verschwende ich an Güterzüge und Autobahnen.
Dann beginnt das Blitzen im Wald. Einige, bald etliche, dann hunderte kleiner Punkte blitzen zwischen den schwarzen Silhouetten der Pinien durch die werdende Nacht. Verhängnisvoll wird es, wenn so ein Glühwürmchen unachtsam zu dicht über der Wasseroberfläche aufblitzt. Sofort schießt ein armdicker Fisch einen halben Meter hoch aus dem Wasser. Nur das beinahe ohrenbetäubende Platschen in dieser Stille überdeckt sein vermutlich genüssliches Schmatzen.
Ortschaften sind selten an der Kanalroute. Und wenn doch liegen sie entweder zwischen den Schleusen oder sind typisch amerikanische „Villages“. Rechteckige Schachbrettmuster mit gepflegten Vorgärten, halbwegs einheitlichen Häusern und einem aufblasbaren Pool vor der Veranda. Landleben wie bei den „Sims“. In einem dieser Dörfer treffe ich zwei Boote aus Brasilien. „Wir wären gern länger im Kanal geblieben, aber wo soll man bleiben? Es sieht überall gleich aus“, fasst Angela zusammen. Nebenbei erfahre ich, wie leicht ich es doch mit meinem Cruising Permit habe. Wo ich genervt in jedem Zollbezirk telefonisch Meldung machen muss, müssen sie jedes Mal komplett neu einklarieren.
Nach sieben Tagen mache ich in Oswego zum letzten Stopp im Kanal fest. Nur noch zwei Stahltore und eine Schleusenkammer trennen mich vom Lake Ontario. Tooorrrrrronto!
Der letzte Tag im „Free Dock“ wird kompliziert. In Charleston wurde mir bei der Einreise keine „weiße Karte“ gegeben. Die Custom Border Protection erwägt, mir einen Officer zu schicken, damit er mir schnell diese lebenswichtige Karte geben kann. Darauf befindet sich eine Nummer, die ich bei der Ausreise angeben muss. Für die Telefonkraft bin ich aber offenbar eh schon ein illegaler Einwanderer, da ich schon länger als 90 Tage in den Staaten bin und behaupte, mein Stempel im Pass habe kein Ablaufdatum. Fast eine Stunde vergeht am Telefon, bis ich einen „Supervisor“ am Ohr habe. „Alles Blödsinn, Journalistenvisa haben nie ein Datum, Aufenthaltsdauer und Einreise sind OK, den Fehler hat der Kollege in South Carolina gemacht, wenn Sie wiederkommen achten sie bitte darauf, eine Karte zu bekommen, gute Fahrt“. – Ganz amerikanisch bleibt mir nur: „thank you, see you later“. Gleichmaßen verabschiedet es den Beamten und das ganze Land.
Die letzte Schleuse passiere ich am nächsten Vormittag. Dahinter wieder Reisen nach Zahlen: Die Route besteht aus einem Wegpunkt in 130 Meilen, auf 273 Grad. Quer über den ersten der Great Lakes. Meine Rechnung: Mittags los, am frühen Nachmittag ankommen. Mir ist mulmig und ich bin schlechtgelaunt. Mulmig, angesichts einer 23 Stunden langen Motorfahrt. Zum ersten Mal muss ich mich dabei vollkommen auf den Yanmar verlassen, der unter der „Treppe“ seinen Dienst tut. Mehr als eine Sichtkontrolle, frisches Öl und gutem Zureden kann ich vor der Abfahrt nicht für ihn tun. Fällt die Maschine aus, wird es ungemütlich. Schnell dürfte sich Paulinchen dann quer zu den Seen legen und von einer Seite zur anderen wanken. Mit jedem Wellenberg dabei einwenig mehr die Verspannung meiner Deckslast lockern. Ich vermisse auf diesem Trip eine „Doppelte Sicherheit“, einen Plan B, den man als Einhandsegler eigentlich immer im Hinterkopf parat hat. Aber der Mast bleibt an Deck verzurrt liegen. Und das ist auch der Grund für die sinkende Laune: Bei etwa drei Beaufort achterlichem Wind wären mir 70 ziehende Quadratmeter Parasailor jetzt lieber, als die eingeplanten 50 Liter schiebenden Diesels.
Der Motor macht einfach seinen Job. Kein Knurren, kein Stottern. Einfach ein unendliches, lautes und konstantes Brummen. In Zahlen: 2700 Umdrehungen, 80 Prozent Nenndrehzahl. Am Ende liege ich bei 1,8 Litern pro Stunde. Einen kleinen Tick weniger, als ich auf der Atlantiküberquerung gemittelt hatte.
Gegen Abend schläft der Wind ein und der See breitet sich zur Nacht als eben wabernde Fläche aus. An Backbord verschwindet langsam die Küste der USA, im Fernglas sind an Steuerbord bereits die ersten Hügel Kanadas am Horizont zu erkennen. Über den Bundesstaat New York ziehen die ganze Nacht hindurch Gewitter nach Osten. Ein Schauspiel, weit weg: Ein Blitz jagt den Nächsten durch den Himmel. Immer wieder erhellen sie ganze Landschaften aus Wolkenkolossen. Wie vorhergesagt, bleiben die Unwetter südlich des Ontarios, fauchen lediglich einige Male mit einer kurzen Böe oder einem Schauer auf den See hinaus. Dafür schießen im letzten Licht des Tages die Lichtkegel der Städte rund um mich in den immer dichter bewölkten Himmel. Der größte, ist eher eine Mauer aus rötlichem Licht und kein Kegel. Direkt voraus liegt Toooorrrrrrronto!