Ein „straight shot down“ klingt dramatisch, beschreibt aber in amerikanischer Seglerterminologie lediglich einen „langen Schlag“. Eine Stunde vor Sonnenuntergang spült mich die beginnende Ebbe aus dem Hafen von Great Kills, Staten Island. Das Lichtermeer New Yorks hinter mir, vereinzelte Straßenlaternen auf Sandy Hook vor mir. Kaum daran vorbei, folgt das dunkle Nichts des Atlantiks.
Eine lange Nacht. Segeln Ende Oktober bedeutet Dämmerung gegen sechs Uhr abends und Sonnenaufgang um halb acht am Morgen. Dazwischen fällt das Thermometer bis auf neun Grad. Winterunterwäsche und Wollmütze, erinnern an die ersten Meilen dieses Jahres im April auf der Nordsee.
Der Abend zieht mich sofort in seinen Bann. Hat mich doch die Dunkelheit auf dem Meer schon immer begeistert. Tagestörns dienen dazu, eine Strecke zum nächsten Ort zu bewältigen, Seeluft zu genießen und das Meer zu sehen. Aber erst der Nachttörn macht eine Passage zur Reise. Er ist der Inbegriff des Lebens an Bord. Erfordert Wache gehen, schlafen, Essen kochen, Lichter beobachten, Kartenarbeit. Alles findet statt und das Boot verwandelt sich während der Nacht vom Fortbewegungsmittel zum Zuhause.
Das endlose Lichtermeer an Steuerbord heißt Long Branch. Es ist der Beginn des amerikanischen Kontinents. An Backbord sind es einzelne Topplichter im Nichts. Selten sind sie dicht genug, um mit dem Fernglas rote oder grüne Seitenlichter auszumachen. Es sind Frachter auf ihrem Weg nach oder von New York. Ich höre die Stimmen ihrer Kapitäne im Funk nach dem Lotsen für die Lower Bay rufen. – Sie sprechen Englisch, aber mit Akzenten aus aller Welt.
Mit jeder Meile Abstand zum Land wird das Sternenzelt dichter. Nachdem der Mond verstohlen der Sonne wie zum Tete-a-Tete hinter den Horizont gefolgt ist, wird die Nacht auf See komplett. Tausend funkelnde Punkte am Himmel und ein Schweif aus Meeresleuchten hinterm Boot.
Das Ziel meines „straight Shot“ erreiche ich nach zwei Tagen und drei Nächten. Ich wäre gern einfach weiter gesegelt. Doch südlich der Chesapeake Bay folgt Cape Hatteras. Ab dort steht mir der Golfstrom entgegen und die berüchtigten Inlets der Ostküste beginnen. Auch, wenn mir die Beschreibungen im Maptech Revierführer etwas übertrieben Vorkommen, schaffen sie Respekt: „Die Betonnung ist in den Karten nicht angegeben, da die Fahrwasser ständig verlegt werden müssen“. Für die Passage sei außerdem „Local Knowledge“, das Wissen der Einheimischen, nahezu unentbehrlich. Wer es trotzdem versuchen will, braucht bestes Wetter und exakt Hochwasser. – Manchmal allerdings, so der Revierführer, helfe auch das nicht.
Das Zusammentreffen mit diesen Inlets scheint auf den Autoren großen Eindruck gemacht zu haben. Bei mir wecken sie eher heimatliche Gefühle, erinnern an Seegatten und Wattenfahrwasser der Nordsee. Respekt verdient so ein Seegatt. Aber wenn es in der Regel unpassierbar ist, warum dann die Mühe, dort Tonnen auszulegen und sie auch noch ständig zu versetzen?
Gefahr hängt eben vor allem davon ab, was man gewohnt ist. Diesbezüglich sind deutsche Segler international sicher gut aufgestellt. Denn auch der Weg nach Norfolk ist laut diesem Handbuch eher riskant. Gilt es doch mit den Hampton Roads eine „der am stärksten befahrenen Schiffahrtsrouten“ zu passieren. Skipper sollen „außerhalb der Fahrwasser bleiben“ und „wegen des Tidenstromes größte Aufmerksamkeit walten lassen“. Wer zwischen Gedser und Rostock segeln gelernt hat, sieht der Verkehrsdichte vermutlich entspannter entgegen. Und Elbskipper dürften sich zuweilen einsam fühlen: Ich treffe in dieser Nacht zwei Containerfrachter, die wie angenagelt der Radarlinie in der Karte folgend dem Ozean zustreben. Einziges Highlight: ein das Fahrwasser querendes Kriegsschiff.
Ab Norfolk geht es im Intracoastal Waterway (ICW) durchs Binnenland am Cape Hatteras vorbei. Schneller ist man hier keineswegs und entspannter ist die Passage erst recht nicht. Der Reiz dieser Route liegt daher einzig im Optischen. In Sümpfen, Wäldern, Creeks und Kills. Es gibt einige Schleusen, die die geringe Tide ausgleichen und zahlreiche Klapp- oder Drehbrücken zu passieren. Aber vor allem gibt es jede Menge Boote zu sehen. Meist sind es große Verdränger, die mit entsprechender Heckwelle und exakt einem viertel Knoten mehr Fahrt vorbeiziehen. Nur, um alle einmal durchzuschaukeln und an der nächsten Brücke etwas länger zu warten.
Der Puls im Kanal schlägt bei etwa sechs Knoten Marschfahrt. Ich drossele meine auf fünf und bleibe zwischen den Pulks, die morgens aus dem selben Hafen starten und abends am gemeinsam ihren Anker fallen lassen. „Man trifft sich im ICW immer wieder“, haben mir jene erzählt, die hier jedes Jahr in den Süden ziehen. – Ich strafe sie Lügen, ankere abseits der im Revierführer beschriebenen Ankerbuchten und treffe nur einen Kanadier ein zweites Mal. Mir sitzt noch immer New York im Nacken. Statt Menschen sind mir die verlassenen Ankerplätze in den Sümpfen und schnelles Vorankommen lieber. Im Broad Creek am North River ist die Einsamkeit Perfekt. Ich bleibe drei Tage und warte eine Gewitterfront mit kräftigem Südwind ab, dann geht es weiter.
Aus dem Logbuch: In zwei Stunden geht die Sonne auf. Dann wird es wohl wieder unerträglich schwül draußen. Der Wind scheint langsam nachzulassen und auf Westen zu drehen. Noch den Wetterbericht holen und dann mache ich mich auf in die Outer Banks. Zwischen Festland und vorgelagerten Inseln hindurch.
Laut Computer genau einhundert Meilen – 24 Stunden. Der Revierführer findet die Idee nicht bravourös. Genau genommen rät er davon ab, durch den Pamlico Sund bei Nacht zu fahren. „Das Wasser ist neben den Fahrwassern mit Stellnetzen und Krabbenkörben regelrecht verseucht“, steht dort zu lesen. Dann bleibe ich eben in den Fahrwassern. – reicht ja vollkommen aus. Außerdem: Der Sund hat an seiner tiefsten Stelle etwa 7 Meter. Dann fällt einfach mitten drin der Anker und die Reise wird bei Sonnenaufgang fortgesetzt. Ich überlege, ob der mistige Maptech Führer einen Artikel im Blog wert ist. Das ständige: Bloß nicht, lieber nicht und auf keinen Fall ist Panikmache. Daneben gibt es außer Marina-Werbung und Restaurant-Telefonnummern etwa Null Informationen.
Klappt alles, wie geplant, erreiche ich morgen Abend Morehead City. Dann geht es auf die Suche nach einem Supermarkt und ich rüste mich für den Sprung zu den Bahamas. Der „echte“ Intracoastal Waterway führt bis dahin 180 Meilen durch sumpfiges Land und würde in Tagesetappen á etwa 50 Meilen befahren werden müssen.
Davon habe ich die Nase voll. Nein, ich kann nicht verstehen, was den Reiz dieser Route ausmacht. Eine Abkürzung ist er nicht. Mal Kanal, mal Fluss, mal See, mal Sund. Die verschlungenen Pfade dazwischen kosten Meilen und Stunden. Zickzack ist nervig, wenn es „Kreuzen“ heißt. Aber unter Motor stundenlang in die falsche Richtung fahren zu müssen macht mich aggressiv. Interessant ist die Landschaft, aber nach zwei Tagen macht selbst die bizarrste Gleichförmigkeit etwas müde
Das Groß steht schon, bevor der Anker aus dem Grund kommt. Ohne Brummen schleiche ich mit zwei Knoten aus dem Creek, rolle das Vorsegel aus und setze Kurs auf den Pamlico Sund. Flaches Wasser und halber Wind sind Bedingungen, die Rekorde machen. Paulinchen ist selbst im zweiten Reff zu schnell. Die hundert Meilen schaffe ich in kaum mehr als 17 Stunden. Der Adams Creek Canal, die letzten zwanzig Meilen vor Morehead erreiche ich lange vor Sonnenaufgang. Zeit, Segel zu bergen und die Ankerlaterne einzuschalten. Ich treibe mit 0,5 Knoten den Neues River hinauf, dösend, immer mal kurz aus dem Luk schauend.
Im ersten Morgenlicht rollt sich die Genua ein letztes Mal aus. Mit achterlichem Wind und sieben Knoten schiebt der der Ebbstrom durch den Kanal. Das Ufer ist wieder sumpfig, aber zumindest belebter. Pompöse Villen wechseln sich mit undurchdringlichen Urwäldern ab. Ich will die Fahrt drosseln, verkleinere die Segelfläche. – Dann der Schock.
Das Vorsegel rollt zur Hälfte ein, dann hakt es kurz und im selben Moment erzittert das ganze Rigg. Wie in Zeitlupe sackt die Genua in sich zusammen, das Vorstagprofil knickt auf halber länge ab. Als wolle Paulinchen sagen: „Genug, ich habe keinen Bock mehr“, klatscht das gebrochene Vorstag ins Wasser.