Eingelebt

Nebelschwaden über den Hängen am Zürichsee, Schweiz. Foto: Hinnerk Weiler
Nebelschwaden über den Hängen am Zürichsee

Zürich, Schweiz. – Es schaukelt nicht mehr. Nicht unter den Füßen, nicht in der Koje und auch nicht im Kopf. Paulinchen wurde in ihren ersten Sturm im kanadischen Herbst an Land ordentlich durchgerüttelt, aber „Die Plane ist noch drauf“, meldete Ben. Böen mit über 100 Stundenkilometer fegten vergangene Woche über das Boot.

Die gute Nachricht erreicht mich am Zürichsee, rund zehn Breitengrade weiter nördlich und mit Blick auf die Erdachse fast im rechten Winkel dazu. Erstaunlich schnell hat sich hier das Leben an Land wieder eingestellt. Ein beruhigender Vorgeschmack, der Mut macht, wenn ich in einigen Jahren nach dem wirklichen Ende der Reise wieder meinen Platz als „ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft“ finden muss. Denn mit festem Boden unter meinen Füßen hatte niemand so schnell gerechnet. Jeder fragt: „Und, vermisst Du das Boot?“, lacht und meint auch immer schon die Antwort zu kennen.

Überraschte Gesichter dann, wenn das „Nein“ kommt. Ich vermisse Paulinchen nicht. Mir fehlt auch nicht das Schaukeln und nach einer Woche Schweiz komme ich gut ohne den weiten Horizont der See zurecht. Das das funktioniert, weil es ein Danach gibt. Nie im leben war mir eine Perspektive für die Zukunft klarer und wichtiger als heute. Vielleicht trägt aber auch der Ausblick aus der Wohnung dazu bei. Statt in trist städtisches Grau streift der Blick durch die Fensterfront über Berge und die letzten Boote, die auf dem Zürichsee die spärlich gewordenen Sonnentage für ihre Runden nutzen.

Segelboot auf dem Zürichsee unter Genacker. Foto: Hinnerk Weiler
Die letzten Sonnenstrahlen bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt nutzen

In der ersten Phase des Ankommens an Land half hier das „Einsiedeln“: Besinnen, beobachten, Erwartungen schüren und erst aufbrechen, wenn der Hunger da ist. Ich mache das immer, wenn mein Anker vor Häfen fällt, auf deren Besuch ich nicht vorbereitet bin oder, nachdem ich lange Zeit für mich allein in Ankerbuchten oder auf See war. Es ist mein Instrument, wenn ich mich als Einhandsegler allein gegenüber der Zivilisation fühle:

 

Der erste Landgang dient nur der schnellen Orientierung und ist gefolgt von einigen Tagen, an denen ich keine Motivation verspüre überhaupt von Bord zu gehen. In Zürich blieb ich fast eine ganze Woche im Haus. Schlich zwischen Bad, Küche und Wohnzimmer umher, sah verstohlen aus dem Fenster und fragte mich: „Was willst du dort draußen? Warum solltest Du aus der Tür treten?“

Antworten bekomme ich darauf nie. Sie kamen nicht, in Riga, nicht auf den Azoren, blieben im Hudson vor New York aus und auch das Ankerfeld vor den Bahamas schwieg. Doch an diesen Orten den Blick auf die Umwelt zu richten, lässt das Interesse wachsen. Bis die Neugierde zum brennenden Hunger wird. – „Was auch immer dort ist, ich will ES!“. – Das ist ein einfaches Konstrukt, das Enttäuschungen vermeidet. Denn dann bin ich bereit jedes Bild, jeden Ausdruck neuer Kultur, jedes Wort in einer fremden Sprache anzunehmen. Dann bin ich angekommen und kann bedingungslos erkunden.

Kappelerbrücke in Luzern bei Nacht. Foto: Hinnerk Weiler
Nach einer Woche "Einsiedeln" ist der Hunger da – und wird gestillt.

 

 


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