Vom Schleusen in Kiel Holtenau merkt man nicht viel. Ein Klingeln, dann sperrt das Tor hinter einem die Ostsee aus. Paulinchen geht an einem der Schwimmstege längs und ich steige die Leiter und Treppen hinauf zum Schleusenwerter, der die Kanalgebür von 12,50 Euro kassiert. Wie immer: In der Kneipe ist das Boot etwas unter zehn Meter, im Hafen und in Schleusen knapp neun. Dann geht es schnell. Wenn man sich auf dem Rückweg nicht beeilt, mit einem der wenigen anderen Skipper ins Gespräch kommt, ist das vordere Tor schon offen bevor man wieder an Bord ist. Fertig.
Mit “Fertig” endet auch der Logbucheintrag, den ich anschließend auf dem Kanal schreibe: “Wiedersehen frühestens in sechs Jahren. Finnland, Baltikum, Schweden, Dänemark – Fertig”. Das macht wehmütig, hilft aber, die Stimmung auf den etwas eintönigen und langweiligen Nord-Ostsee-Kanal einzustellen. Vor mir liegt viel Neues. Erst mal aber rund 50 Meilen Motorbootfahren. Ein Vorgeschmack auf den Weg ins Mittelmeer. Der triste morgendliche Dunst wandelt sich zum Mittag in einzelne Wolken, hier und da zieht ein kurzer Schauer übers Deck. Kalte Tropfen aus einem nasskalten Himmel. Der Herbst hat die Blätter entlang der Uferböschungen längst in seine Lieblingsfarben gemalt und mich in den eigens für diesen Teil der Reise an Bord befindlichen Winteroverall getrieben.
Ich habe mich daran gewöhnt. Handschuhe, Schal und Wollpullover gehörten schon auf dem Kattegat vor wenigen Tagen zum Segeloutfit. Sie halfen der Gischt zu trotzen, die auf der fast 250 Seemeilen langen Strecke von Thisted nach Kiel immer wieder den Weg übers Deck nahm. Doch die meiste Zeit der Reise verbrachte ich ohnehin unter Deck. Schaute tags wie nachts alle 10 oder 15 Minuten hinter der schützenden Sprayhood hervor, steckte die Nase in den eiskalten Wind und träumte mich zurück in den zurückliegenden Sommer. Denke zum Beispiel an Heidi und Udo von der La Bohème, die mich in Ruhnu auf Fertiggerichte aufmerksam machten – willkommene Abwechslungen auf dem Speiseplan, als ich mit leeren Schapps über die Ostsee Richtung Schweden zurückfuhr. Oder an Sabine und Oliver von der L-Size in Karlskrona, denen gemütliches Reisen so wichtig ist, dass sie mit Freuden bei ihrer ARC-Teilnahme vor einigen Jahren den Trostpreis für das letzte Schiff entgegennahmen – und vom Inhalt des Präsentkorbs in der Karibik eine Weile hervorragend lebten. Oder an einen im schwedischen Gräddö unerwartet überlassenen Bootsmannstuhl, als ich das erste Mal in den Mast musste und einen weißen Fleck in der Ausrüstungsliste entdeckte. “Was, wenn Sie noch mal hoch müssen? Behalten Sie ihn erst mal, wir haben noch einen und sehen uns bestimmt irgendwo wieder.” – Er kam noch drei Mal zum Einsatz, zuletzt im Limfjord. Nicht zu vergessen, der auf einer Tafel Schweizer Schokolade notierte Gruß von Christian. Nach einem Törn aus der Schweiz bis Finnland gefiel ihm das Revier so gut, dass er seine Rajac gleich noch eine zweite Saison dort ließ. Hilfsbereite Menschen, unerwartete Gesten – Geschichten, die Lust und Mut machen auf das was alles vor mir liegt.
Schnell gingen die zwei Tage vom Limfjord bis Kiel vorüber. Die Nordsee blieb zu stürmisch. Auch das Kattegat bat mit Wasser überm Süll höflich um Respekt und um ein zweites Reff. Am Ende wurden es 6,2 Knoten, die ich vor der Kieler Förde über die gesamte Strecke ausrechne. Nächstes Jahr auf dem Atlantik würde dieses Tempo die Strecke von den Azoren nach New York auf 18 Tage schrumpfen lassen. Für 2.500 Seemeilen halben Wind knapp unter 20 Knoten zu haben, ist jedoch unwahrscheinlich. Die Chancen, weite Strecken unter Landabdeckung zu segeln, sind sogar, mathematisch betrachtet, Null zu Hundert. Doch bis dahin ist es noch eine Weile.
Erst einmal muss aber der Nord-Ostsee-Kanal bezwungen werden. Und das gestaltet sich ähnlich dem Bergwandern: Von Kiel aus bremst leichter Strom das Boot und den Enthusiasmus, ab Rendsburg wird dann beides vom selben Strom angeschoben. Doch auch ein weit nach vorn gelegter Gashebel und leichter Strom genügen Anfang Oktober nicht mehr, um den Kanal an einem Tag zu schaffen. Zwei Stunden vor Brunsbüttel ist der Sonnenuntergang zum Greifen nah und damit das Verbot für Sportboote ohne Lotsen an Bord weiterzufahren. Mir bleibt nichts übrig, als den hinter einer Weiche ausgewiesenen Liegeplatz aufzusuchen.
Aus den lockeren Wolken des Nachmittags ist längst wieder eine trübe Herbstsuppe geworden: Nieselregen und kalter Nordwest. Von einer Steganlage ist drin aber auch beim Näherkommen nichts zu erkennen. Lediglich einige Pfähle in Ufernähe verraten, wo der Liegeplatz hätte sein sollen. Kurzes Gedankenspiel: “Ankern im Kanal?” denke ich und antworte mir selbst: “Ist ja auch nur Wasser und Grund, außerdem ist dieser Ort als Liegestelle ausgewiesen. Was kann ich dafür, wenn dort dann nichts zum Festmachen ist?”
Zwei Versuche später ist der Anker sicher eingefahren. Die Suche nach dem schwarzen Ball ist ebenfalls erfolgreich und das Ankerlicht brennt auch schon im Topp. Premiere – nach rund 2300 Meilen baumelt zum ersten Mal der Ankerball zwischen Vorstag und Mast. – Man ist ja vorsichtig. Das nächste Polizeiboot ist sicher nicht weit und es ist ja noch eine halbe Stunde lang hell…
Die Nacht am Haken hat einen Vorteil. Statt zum müden Durchreisenden in Brunsbüttel zu werden, erreiche ich den Yachthafen neben der gigantischen Schleusenanlage am nächsten Tag noch vor Mittag. Der Nieselregen hat sich gelegt, es begrüßt mich der kräftige Wind und die Sonne eines kurzen Zwischenhochs. Ausgeschlafen steht mir ein gemütlicher Nachmittag mit Buch, Tee und Wolldecke im Cockpit bevor.
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