Abenteuer „Große Seefahrt“

So also schmeckte das Abenteuer „Große Seefahrt“. Hinter mir die Dänische Südsee, unter mir der etwas mehr als elf Meter lange schlanke Rumpf der Sioned. Für ein Wochenende war ich Mitsegler, hatte meinen ersten Törn auf einem richtigen Schiff im Kielwasser. Als kurzer Gast, der auf der Suche nach praktischer Erfahrung für das Handwerk Fahrtensegeln. Wie ein Fähnrich zur See, der fand, was er brauchte: Vertrauen ins Boot, Kniffe und Manöver. Den Herbst hatte ich dafür ganz bewusst gewählt. War ich doch als frisch gebackener Eigner eines kleinen Kajütkreuzers 2001 auf der Suche nach Bedingungen, die ich mir nicht allein zugemutet hätte. Ich freute mich daher über die dreißig Knoten Wind, die uns in den Hafen von Söby brachten. Innerlich konnte ich jubeln, während die Ehrfurcht vor der Gischt an Deck und dem Wasser über der Fußreling mir ein Schweigen auferlegte. Und in diesem Schweigen geschah es. Ein kurzer Moment, der den restlichen Törn in meiner Erinnerung vor einem Standbild verblassen ließ: Meine Phantasie ging auf Reisen. Die für mich damals ungeheuer raue Ostsee lag hinter mir. Meine Koje an Steuerbord im Salon war gegen die Eignerkajüte unterm Cockpit getauscht. Das „Dänische“ verschwand von den Seekarten und hinterließ nur „Südsee“. Der in Rot und Weiß angemalte Leuchtturm voraus markierte nicht mehr die Einfahrt der Flensburger Förde. Kalkgrund stand jetzt an der Einfahrt von Kalkutta.
Ich hatte die Pinne fest in der Hand, wusste, dass es ein Trugbild war, aber ich gab mich ihm hin. Hatte darin das Boot über Wochen und Monate durch Sturm und schwere See gebracht, und nun stand der Landfall bevor. Vorbei am Leuchtturm und hinein in eine fremde Welt, zu neuen Eindrücken und ans Ziel meiner Reise..

Die Realität sah natürlich weniger romantisch aus: An meinen ersten Tagen auf einem „Dickschiff“ hatte ich hart mit der Pinne zu kämpfen. Die Sioned war stark luvgierig und die Kräfte erschienen im Vergleich zu meinem sechs Meter langen Kajütkreuzer enorm. Auch das Gefühl einer warmen Südsee war sicher mehr Schal, Wollpullover und Ölzeug zu verdanken. Aber was hat die wirkliche Welt schon zu entgegnen, wenn sich Mundwinkel in aller Stille zu Ohrläppchen gesellen? Glücklich, der Phantasie erlaubt zu haben, sich einen Moment selbst zu überflügeln und aus einem Traum ein Ziel zu machen. Die Füße locker mit der Gelassenheit eines alten Seebären in Lee auf der Sitzbank abgestützt, spielte das Wann keine Rolle und für das Wie würden sich Wege finden. Nur eines war klar: Es war kein „Vielleicht“

Knappe zehn Jahre später halte ich die Pinne in der Hand und erinnere mich an diesen ersten Geschmack der „Großen Seefahrt“. Wieder pflügt ein Bug durch steile und kurze Wellen und wirft Wasser auf das Deck. Das Bild von Kalkgrund habe ich seit jenem Tag immer wieder vor Augen, wenn es hoch am Wind auf ein Ziel zu geht. Der Leuchtturm ist ein Sinnbild für den Traum, den ich seit diesem Tag verfolgt habe und der weitgehend Realität wurde. Nach Wochen und Tagen auf See lagen fremde Häfen vor mir und damals unerreichbar ferne Ziele sind greifbar geworden. Die Gischt wirbelt nicht mehr aus der trüben Ostsee um meine Nase, sondern stammt aus türkisblauem Wasser. Mein Boot ist deutlich kleiner, besitzt keine Eignerkajüte, und Kalkutta hat vermutlich nicht einmal einen Leuchtturm. Der Turm, den ich heute ansteuere, besteht aus schlichten Stahlrohren. Er steht aber nicht in der Westlichen Ostsee, sondern auf Highborne Cay in den nördlichen Exumas.

Nicht immer folgt der Traum dem Bild, dass ich damals hatte. Die Phantasie ist dafür zu mächtig. Zwei Tage später liege ich zwischen einigen kleinen Inseln vor Anker. Im Grund um mich herum verteilt, alle Eisen, die ich habe. Ich habe den Platz nicht gewählt, weil es mir hier besonders gefällt, sondern weil er geschützt ist. – Nahezu rundherum, und das ist dieser Tage wichtig. Denn der Wind wird in den nächsten zwei Tagen drehen. Um 360 Grad und dabei kaum unter zwanzig Knoten wehen. Gewitter, Regen, Schauerböen bestimmen den Wetterbericht für die Bahamas.
Die andere Seite des Traumes, der Alptraum, in dem ich an meinem Computer sitze und schreibe, während über mir Blitze durch eine finstere Nacht ziehen. Ihr Donner lässt das Geschirr in der Spüle vibrieren und die Phantasie hämmert die Bilder der Angst ein: Was, wenn die Anker im weichen Sand doch nicht halten? Was, wenn ein Blitz den Mast erwischt? Was …

Auch das ist Teil des Abenteuers „Große Seefahrt“. Seit die ersten Schiffe in See stachen, standen ihre Crews vor Fragen. Allen voran: „Was, wenn wir am Ende des Ozeans abstürzen?“ – Sie haben sich trotzdem aufgemacht. Meile für Meile, immer weiter weg vom Heimathafen. Heute zwingt mir der Wind seine Fragen auf, morgen wird es der Motor sein und gestern war es das leere Konto.

Antworten müssen gefunden werden, wenn die Fragen entstehen. Der Mut, sich ihnen zu stellen und Lösungen unterwegs zu suchen, lässt uns erst die Leinen loswerfen. Ängste, Sorgen und fehlende Perspektiven vernebeln zuweilen den Traum und doch machen sie erst den Unterschied zwischen der Reise und dem Abenteuer. Ein Leuchtturm wie Kalkgrund hilft, den Traum darin zu verfolgen. Seine Ringe führen den zurückgelegten Weg vor Augen und mit jedem Blinken zählt er die Hürden im Kielwasser auf. Das hilft, Prioritäten zu ordnen und das Gewitter über dem Ankerplatz ohne die Nebelkerze Angst zu bewerten: Verglichen mit dem Atlantiksturm nur ein Windhauch.


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