Schleuse Nummer „Eins“ war eher Wellenbrecher als Wasserstandsregulator. Draußen wehte es seit zwei Tagen aus Osten über den Lake Michigan und auf dem kurzen Stück vom letzten Liegeplatz zur Schleuseneinfahrt wirbelte unter Deck noch einmal alles Durcheinander, was nicht ordentlich verstaut war. In Erwartung einer Flussfahrt statt schwerer See, war das so ziemlich alles von der Kaffeedose bis zum Computer.
Wichtiger, als was unter Deck passierte, war der Mast darüber. An Deck, auf dem Bugkorb, einer Stütze in der Mitte und am Heck gelagert, fest verzurrt. Bei der langen Passage über den Lake Ontario im vergangenen Jahr hatte ich gelernt, das die Verspannung sich im Laufe der Zeit lockert. Damals hatte ich mühe, ihn mitten auf dem See wieder fest zu bekommen und mir für dieses Mal überlegt, die Zurrgurte durch Leinen zu ersetzen und die über Blöcke zu den vier Winschen zu lenken. Der Aufwand hat sich gelohnt. Zweimal ruckelte sich die kostbare Fracht los, während der Bug immer wieder in die steilen Seen bohrte. Ohne Winsch und Kurbel wäre er dabei kaum an Deck geblieben.
Die Strecke ist zum Glück nur kurz: Knappe drei Meilen offenes Wasser liegen zwischen der Burnam Park Marina und der Schleuse. – Außen um den ehemaligen Flugplatz „Meigs Airfield“ herum, bis zu den Wellenbrechern vorm „Chicago Lock“, wo das Wasser wieder ruhiger wird. – Hätte ich vorher gesehen, was hier lauert, wäre ich noch einen Tag an meiner Mooring Boje hinter der Flughafeninsel geblieben. Dahinter war es verführerisch windstill und kaum eine Bewegung auf dem Wasser. Dass es draußen etwas rauer wird, war nach den letzten Tagen zu erwarten, dass ich zwischenzeitlich befürchten müsste den Mast zu verlieren, für jemanden mit Ortskenntnis vielleicht auch …
Die Skyline zu genießen ist an diesem Morgen ohnehin nicht möglich. Chicago liegt seit gestern unter den Resten von Hurrikan Isaac begraben. Der fegte an der Golfküste etliche hundert Meilen weit entfernt an Land und hatte inzwischen genug zeit, sich zu einer ausgeprägten Regenfront abzuschwächen. Dicke graue Wolken, Schauerböen: für das Flusssystem, in das ich unterwegs bin, gilt Hochwasservorwarnung. – Vor einer Woche noch sprach hier jeder von der langen Dürre und ungewöhnlich niedrigen Wasserständen, die im Hinterland Streckensperrungen erwarten lassen. Dank Isaac steigt der Wasserspiegel. Bleibt abzuwarten, wie weit.
Tür auf, Boot rein, Tür zu, andere Tür auf.
Paulinchen ist auf dem Chicago River. Bei Pegelstand -2 Fuß hat die Schleuse nicht viel mehr zu tun, als aufzupassen, dass keine Strömung in der Schleuse entsteht. Endlich Zeit, den Kaffee zu trinken, den ich für vergangene Stunde vorgesehen hatte.
„No Wake!“ steht direkt hinter der Schleuse an der ersten Brücke. Bei drei Knoten Fahrt tauche ich nach und nach unter den Brücken von Wabash Avenue, der State Street und anderen Einkaufsmeilen hindurch, die ich an den Tagen zuvor bei Tag und von oben kennengelernt hatte. Eine glitzernde Welt, bunt und laut, dominiert von H&M und iPhone Werbung. Wie viele Stadtzentren der Welt längst austauschbar geworden. Vorbei ist die Einmaligkeit des Chicagoer Juwlery District und der ganzen Magnificent Mile. Das Symbol der amerikanischen Konsumgesellschaft mag seinen Ruf noch eine Weile verteidigen können, bietet jedoch längst kaum noch etwas, das nicht auch ohne Flug bei den gleichnamigen Ketten auf der Hamburger Mönckebergstraße zu finden wäre. Das ist nicht schlimm. Es erlaubt sogar, sich noch mehr der Stadt selbst zu zuwenden.
Und die ist Grund genug, dennoch zu kommen. Die Skyline von Chicago gleicht eher einem Lego-Prospekt und gibt sich in bunter, irgendwie sogar mutig erscheinender Architektur. Man ist sich der Historie der Stadt bewusst, in der Ende des 19. Jahrhunderts fast 18.000 Häuser verbrannten und dabei den Platz für ein neues Zentrum schufen. Passend zum Beginn des Hochhausbooms, in dem hier die ersten „Tower“ als Wolkenkratzer mit zehn Stockwerken in Stahlbauweise entstanden. Hoch bedeutet seit dem weniger Beton und mehr Platz für Fenster oder ganze Glasfassaden. In Chicago scheint man dabei nicht den Mut verloren zu haben Stile zu mischen, während in vielen anderen Städten einheitlicher Baustil auf im Großen dominiert. Das erlaubt Extreme und verbindet sie miteinander, wie die fast zweihundert Jahre alte Stahlkonstruktion, auf der die U-Bahn um den „Loop“ im Zentrum kreist. Sie passt genauso ins Bild, wie das in den Siebzigern entstandene John Hancock Center, der Sears Tower, die zur Jahrtausendwende im Millennium Park errichtete, chromglitzernde „Bean“, oder eben auch die grob genieteten alten stählernen Klappbrücken über den Chicago River.
Die lassen sich auch heute noch auf Bestellung für eine Boots-Passage mit stehendem Mast öffnen. Viele der Yachten, die das Bild vor der Skyline prägen (allein 1200 Bojen hat das Monroe Mooring Field zu bieten), kommen auf diesem Weg jedes Jahr in Frühling und Herbst als Konvoi durch die Stadt vom oder zum Winterlager. Allerdings werden die Zeiten dafür meist in die Nacht gelegt, um den Autoverkehr im Zentum nicht zu sehr zu belasten. Und allzu weit kommt man ohnehin nicht. Bereits nach einer Stunde endet die Fahrt für alle Boote mit mehr als fünf Metern Höhe an einer festen Brücke und Skipper, die wie ich über die Flüsse weit ins Binnenland fahren, müssen hier hindurch.
Statt in einem bunten Lichterzug im Herbst mit stehendem Mast durchfahre ich das Stadtzentrum daher im Spätsommer. Die Hochhäuser verschwinden unter den schweren Wolken Isaacs und außer einigen Joggern ist kaum jemand entlang der Promenaden am Fluss zu sehen. Dass sich das in einigen Stunden ändern wird, verraten nur die geschäftigen Arbeiter, die die Ausflugsboote für die Stadtrundfahrten vorbereiten. Regenwetter bedeutet Hochkonjunktur für alles, was ein Dach hat.
Paulinchens Cockpit hat derzeit keines und immer wieder zieht ein kurzer Schauer für einige Minuten zwischen den Häuserzeilen hindurch. Der Reisverschluss meiner Kuchenbude ist von der Sprayhood gerissen und bis ich eine passende Nähmaschine finde, muss es auch ohne gehen. Aber wenn es an kalten Tagen 20 Grad warm ist, sind Schauer eh eine willkommene Abkühlung. Mehr Sorgen als um Regen mache ich mir daher auf meinem Weg in die Südstaaten auch um einen geeigneten Sonnenschutz.
Schon wenige Meilen hinter „Downtown“, da wo Touristen nicht mehr so oft mit den Ausflugsboten hinkommen, wandelt sich das Bild entlang des Chicago Rivers. Und wie so oft in großen Städten bedeutet „am Fluss“ hier vor allem dreckig. Die Ufer säumen abwechselnd Industrieanlagen, Klärwerke und gigantische Öltank-Areale.
Ein kleiner dünner Film davon bedeckt auch den Fluss, der hier ganz unverblümt „Chicago Sanitary and Ship Canal“ heißt. Sanitär soll laut Revierführer durchaus wörtlich zu verstehen sein: „Geht eine Mütze über Bord, besser keine Anstrengung unternehmen, sie wieder aufzufischen“.
Genau genommen ist es das zwanzig Meilen lange Abflussrohr einer zehn Milionen Metropole ins Landesinnere. Aufgebauscht zur Ingenieursleistung: Schleuse Nummer „Eins“ dreht kurzerhand die Fließrichtung des Chicago Rivers um und die Stadt bezieht dadurch stets sauberes Trinkwasser aus dem Lake Michigan und spült streng formuliert ihre Toiletten minimal geklärt in das Flusssystem Richtung Mississippi und Golf von Mexiko quer durch die USA.
Gleichzeitig ist der Kanal die einzige Verbindung zwischen den Great Lakes und den Flüssen des Mittleren Westens, die sonst alle in Richtung Golf von Mexiko fließen. Damit ist er auch die wichtigste Frachtroute neben Eisenbahn und LKW zwischen der Golfküste und dem Norden der USA.
Kurz vor der kleinen Stadt Joliet ändert sich das Bild dieses Industriebauwerks. Hinter Schleuse Nummer „Zwei“ wird das schnurgerade gemauerte Ufer zum schlängelnden Fluss.
Bereits seit einigen Stunden folgte der Kanal als eine Art Aquädukt einem Hügel und über dessen Betonmauer sah man ins tiefergelegene Hinterland. Aus Downtown, wurde Industrie, später Wohngegend und längst grüner Wald. Hier endet der „Chicago Sanitary and Ship Canal“, wenn er 13 Meter tiefer am unteren Schleusentor von Lockport Lock auf den Des Plaines River trifft. Hübscher ist er nun, sauberer wohl noch lange nicht wieder.
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