Es hat lange gedauert, die Eindrücke vom bisherigen Teil der Strecke durch den Mittleren Westen der USA zu sortieren. Vielleicht war es ein guter Anfang, das zuerst mit Beschreibungen und Beobachtungen in der Sprache der Landschaft zu versuchen, in der ich unterwegs bin und die Details im englischen Blog zu beschreiben.
Denn schon nach den ersten Meilen auf den Flüssen drängt sich die Frage auf, ob der Great Loop sich überhaupt lohnt. Die schnelle Antwort ist: Ja, das tut er. Aber das ist die Antwort im Reflex, etwas schneller und etwas lauter als all die anderen Stimmen. Sicher, es hat sich gelohnt, nicht nur wegen der Menschen, die ich in mehr als zwei Jahren, kennengelernt habe. Der Great Loop, die Zeit, die er gedauert hat, haben mir die USA und auch Kanada auf eine Weise vorgeführt, die als durchreisender Tourist mit meinem Ursprünglichen Plan aus 2010 nie erlebt hätte. Sehen und verstehen sind zwei unterschiedliche Dinge. Ersteres geht im Transit, letzteres braucht Zeit. Ich bin dankbar, diese Zeit hier gehabt zu haben, aber jetzt ist es auch gut.
Das Wasser von Mississippi, Ohio und Tennessee River unterm Kiel zu wissen, fühlt sich vielleicht gerade deshalb so gut an, weil es so viel länger gedauert hat, als geplant. Nach den Great Lakes wachsen die Flüsse im Kielwasser zu Trophäen der Reise. Auf ihnen voran zu kommen tut erst recht gut, nach den Rückschlägen, dem auf und ab an der Ostküste mit wochenlangen Warten auf besseres Wetter Richtung Hudson River im vergangenen Jahr und einem zweiten ungeplanten Winterstopp in Nordamerika. Hindernisse und Zwangspausen, für die man im nachhinein Dankbar ist. Der Abstecher in die Bahamas hat mir einen Vorgeschmack auf das Kommende gegeben und damit die Geduld befeuert, Zwangspausen zu ertragen.
Die letzten Meilen des Great Loops finden im Geiste schon nicht mehr in Nordamerika statt. Sie sind der Weg nach Süden geworden. Ein Symbol für den jetzt begonnenen zweiten Teil dieses Törns.
Auf dem geht „nach unten“, nach Südamerika. Jeden Tag erinnert die Sonne gegen Mittag daran, wenn sie hoch über dem Bug ins Gesicht scheint. Ich bin nicht mehr auf 35 Grad Nord, ich bin 80 Breitengrade vor Kap Horn. Und mit jedem Blick auf das GPS werden es weniger.
Auf meinem Weg bin ich nicht allein. Zumindest nicht hier. Schon seit Hoppies Marina am Mississippi, etwas südlich von St. Louis sind wir zu dritt unterwegs: Paulinchen, Truant aus Kanada und Whish aus Michigan. Über 400 Meilen haben wir inzwischen gemeinsam in unserem Kielwasser gelassen. Genug, um zur abendlichen „Happy Hour“ bei einem Bier und Snacks ein Resumee zu ziehen: Ob wir diesen Trip noch einmal machen würden? Für Jeff, den Skipper von Whish, würde es wohl nur in Frage kommen, wenn er dafür bezahlt wird. Mark von Truant sieht die Route in erster Linie als gute Transitstrecke. Die würde er auch zukünftig für einen Trip in die Bahamas nutzen. Jedoch im Wissen, so schnell wie möglich nach Süden kommen zu wollen und ohne Erwartungen an diese Etappe.
Ich denke etwas länger darüber nach. Über 15.000 Seemeilen hat es gebraucht, hier her zu kommen. Immer wieder gab es Rückschläge, die mich das Ziel „Binnen“ mehrmals fast hatten aufgeben lassen. Aber die Flüsse waren nun Mal eines der großen Ziele und davon abzurücken stand nie zur Debatte.
Darf man sich da dann überhaupt auf den letzten Meilen so einer Etappe Enttäuschung eingestehen? Wie viele langweilige Kilometer Ufer trumpfen über den Stolz, hier auf eigenem Kiel her gekommen zu sein? Dann sage ich: „Doch, ich würde es sofort wieder machen. Die Strecke ist toll.“, denn nicht der Fluss war enttäuschend, meine Art ihn zu bereisen war es. Ich würde morgen wieder starten wenn ich könnte. Vielleicht nicht von Chicago über den Ilinois River nach St. Louis, eher direkt in Wisconsin, wo der Mississippi beginnt. Vor allem aber würde ich es nicht mit einem Boot wie Paulinchen machen wollen. Nicht mit einer Segelyacht und überhaupt nicht mit etwas, so ungeeignetem, das man es als Yacht bezeichnen müsste. Denn das ist nicht die Art, auf diesen Flüssen zu reisen. Und dann biete ich den erstaunten Augen als Erklärung: „Allerdings in einem Kajak.“
Im Cockpit von Paulinchen hingegen sind viele Meilen dieser Reise unwesentlich spannender, als ein Trip durch den Nord-Ostsee-Kanal. Donnerstags, früh morgens, Anfang April, ohne die Abwechslung durch internationale Seeschiffahrt und um ein Vielfaches länger.
Vom Land, durch das man fährt ist auf der ersten Hälfte der Strecke außer Dämmen und Sandbänken, die im Niedrigwasser hoch aus dem Fluss ragen, nichts zu sehen. Das wäre auch auf einem kleinen Boot nicht anders. Allerdings hat man damit eine Möglichkeit, die uns fehlt: Man kann anhalten.
Diesen Luxus, können wir mit anderthalb bis fast zwei Meter Tiefgang wie auf dem vorherigen Fluss auch hier nahezu nirgends erleben. Wozu auch? Die Ufer sind nach wie vor zu flach und nur hin und wieder bieten tiefe Stellen hinter Dämmen abgelegen in der Wildnis überhaupt einen sicheren Platz zum Ankern. Aber mit einem Paddelboot wäre das anders: Die Sandbänke werden dann zu Zeltplätzen und selbst die für uns unerreichbaren Uferböschungen vor den wenigen Orten am Mississippi würden es erlauben, einen Blick hinter die hohen Flutmauern zu werfen.
Kodi und Reese, die Zwillinge aus Minnesota, machen uns mit ihren 22 Jahren allen vor, wie es besser geht: Zwei Rucksäcke, ein Zelt, ein Boot und zweihundert Dollar in bar. Vom Budget ihrer Reise sind nach fast drei Monaten noch 40 Dollar übrig. Aber wo immer sie ihr Zelt aufschlagen, bleiben neue Bekannte zurück.
Wir „Großen“ hingegen reisen beinahe anonym und außer einer Bugwelle, die irgendwann am Ufer ausrollt hinterlassen wir keine Spuren. Unsichtbar, oft versteckt in vollklimatisierten Kunststoffkapseln, rasen wir einen Fluss hinunter. Wir kennen uns untereinander, manchmal auch das nur vom Funk, aber wir kennen niemanden der hier lebt.
Schon Paulinchens Durst nach Diesel würde das Budget der Kajakreise sprengen. Spritverbrauch und Ankerplätze bestimmen das Tempo auf dem Fluss. Für uns drei Segelboote sind um die fünf Knoten „ökonomisch“. Damit machen wir Tagesetappen um die 60 Meilen und es bleibt wenig Zeit für die knappen schönen Momente im Fluss. Meist gehen die ohn ehin unbemerkt vorüber, wenn die Konzentration auf Strömung, Strudel und Verkehr das Erleben von Landschaft fast unmöglich macht. Und die meisten „Looper“ sind viel schneller unterwegs als wir. Dann dauert die Reise auf dem Mississippi einen oder zwei Tage. Wir brauchen vier bis zum Ohio River und das Kajak zwei Wochen.
Auf dem nächsten Fluss ändert sich das Tempo der Reise, aber nicht die Einstellung. Ein Paddelboot wäre auch hier die bessere Wahl. Denn statt drei bis fünf Knoten Strom, der von hinten schiebt, bremsen nun zwei Knoten den Trek auf „Sumpfkuh-Reisegeschindigkeit“. Mit um die drei, selten vier Knoten kriechen wir Stromauf. Dicht an der Böschung, in weniger als knietiefem Wasser könnte man eventuell sogar einen Gegenstrom finden. Das langsame voranschreiten drückt die Stimmung im offenen Cockpit, über dem zusätzlich tiefe schwere Regenwolken immer wider kräftige Schauer herablassen. Gleichmut wird zu Trotz: „Einfach weitermachen,“ sage ich zu mir selbst, „mit jeder Meile nach Süden kommst Du dichter an offenes Wasser.“
Und tatsächlich: Zwei Tage später hebt uns die erste Schleuse im Tennessee River auf den Kentucky Lake. Das Schleusentor öffnet sich und es fühlt sich an wie in Holtenau am Ende des Nord-Ostsee-Kanals. Der Blick kann einen Moment lang die Weite gar nicht fassen und die Farben einer traumhaften Herbstlandschaft mit etlichen Ankerbuchten füllen das Auge. Die Regenwolken über uns sind verschwunden und Mitten in den USA, irgendwo im Mitteren Westen auf der Grenze zwischen den Bundesstaaten Kentucky und Tennessee zieht Paulinchen fast lautlos unter ihrem Parasailor über den See und erinnert daran, dass man manchmal einfach auch etwas Langeweile braucht, um wertvolle Momente voll auskosten zu können.
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