Am Abend fiel die Anspannung ab. Es ist geschafft. Und irgendwie erwarte ich, dass jeden Moment jemand um die Ecke biegt und sagt: Du hast noch hundert Meilen vergessen.
Ich liege im Vorschiff, ausgestreckt, soweit die einzneunzig-Koje das erlaubt. Die Beine fühlen sich müde an, der Kopf scheint wie leergeblasen. Es dauert eine Weile, bis ich merke, dass ich Muskelkater habe. Jenen befriedigenden Muskelkater, den man abends nach langer Pause vom ersten Segeltag in kabbeliger See mit in die Koje nimmt.
Gesegelt hatte ich nicht. Aber die letzten zehn Meilen folgten einem Zick-Zack durch die Fahrrinne zwischen flachen Sandbänken der nördlichen Mobile Bucht. Südwind, direkt auf dem Vorsteven, warf kleine Wellen auf, immer wieder gerade hoch genug, das Paulinchen mit ihrem schlanken Bug in die See schnitt und beiderseits salzige Gischt aufwarf. Das waren meine Beine nicht mehr gewohnt.
Überhaupt ist mir aufgefallen, dass der Flusstrip der Kondition einwenig zugesetzt hat. Nachdem tagelang der Alltag zwischen Vorschiff und Pinne stattfand, wird die erste Treppe auf einmal zur Herausforderung. Kein Vergleich mehr zur Fitness nach einem Winter in den Bahamas mit täglich mehrstündigem Lobsterschnorcheln. Das allerdings stimmt gelassen: Lobster und schwimmen in klarem Karibikwasser werden ab hier für die kommenden 2000 Meilen wieder zur Regel werden.
Horizont und offenes Wasser. Das gab es zuletzt auf dem Lake Michigan im vergangenen August. Und so sehr ich irgendwie bedaure, dass die Flussfahrt nun schon vorbei ist, so sehr sehe ich mit Sehnsucht auf den, wie mit einem Lineal gezogenen, Horizont vor mir.
Das Gefühl dabei fing schon an, bevor ich überhaupt das offene Wasser erreichte. Einige Meilen vor der Mündung des Mobile Rivers, wie der Tombigbee am Schluss hieß, verschwanden die Tows und Barges aus dem Fluss. Dafür lagen Containerschiffe, Getreidetransporter und Kohlefrachter an den Kais des Seehafens. An ihren Hecks wehten Flaggen aus China, Norwegen, Griechenland oder Panama. „Endlich wieder richtige Schiffe“, sagte ich zu mir selbst und grüßte einen herüberwinkenden chinesischen Seemann. Beinahe wie Antipoden lasen sich die Heimathäfen Tokio und Bergen und doch drücken sie mit einfacher Klarheit aus: Ab hier ist die Welt auf einer ebene, sie steht in alle Richtungen offen. Mit seinen „null“ Metern bin ich auf dem Meerespiegel, der alles miteinander verbindet.
In der Mobile Bay kehren gerade die Fischer von ihren morgendlichen Fangfahrten in den Hafen zurück. Mehr oder minder strahlend weiße Boote, wuchtig, verglichen mit den klassischen Fischkuttern der Nordsee. Ihre weiten Ausleger scheinen wie Flügel über das Meer zu ziehen und bieten Möven und grauen Pelikanen den idealen Aussichtsposten, das Einholen der Netze zu beobachten. Immer bereit zum Sprung, falls sich ein Fisch aus dem Netz befreit und zur leichten Beute wird.
Ich verlasse die Bucht in den Dog River, fünf Meilen südlich von Mobile. Turner Marine wird für die nächsten Monate Paulinchens zuhause sein.
Ein gutes Zuhause, wie es scheint. Eine einfache Anlage, die ehrlich wirkt. Auch die Boote entsprechen dem: Große Solarpaneele, Windgeneratoren, wenig Chrom und wenig Politur, viel solider Eigenbau. Ob an Land oder im Wasser, die meisten Schiffe sehen bewohnt aus. Welch ein Unterschied zu den vielen verlassen wirkenden Marinas entlang der Flüsse, in denen nur die Durchreisenden ein Zeichen von Leben hinterließen. Und noch etwas ist anders: Wir sitzen am Abend zusammen und „Skip“ erzählt von seiner Heimat in den US Virgen Islands, Mark von Südafrika. Ich muss seit langem zum ersten Mal nicht erklären, wie ich hier her kam. – Dass ich über den Atlantik gesegelt bin, verraten schließlich Flagge und Heimathafen.
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