Nach einem anstrengenden Tag im Juni 2005 segelte ich erschöpft in die Bokö Hamnvik (58° 05,98’N/016° 49,51’E). Seit einigen Wochen war ich nun schon unterwegs und hatte mich von Neustadt in Schleswig Holstein langsam an Schwedens Ostküste nach Norden gehangelt. Vor mir lag noch der Götakanal, der quer durchs Land zur Westküste führen würde, die beiden großen Seen Vänern und Vättern im Landesinneren, das Kattegatt und letztlich das Ziel dieser mehrmonatigen Fahrt: der dänische Limfjord. Mein damaliges Schiffchen, die Sumpfkuh hatte sich trotz ihrer miserablen Amwind-Eigenschaften auf der 35 Seemeilen langen Kreuz gut geschlagen. Ich war zufrieden mit dem Boot, das trotz seiner Länge von nur sechs Metern für diesen Sommer mein Zuhause sein würde.
Mit niedergeholtem Groß und ausgerollter Genua besuchte ich an diesem Tag einen Flecken Erde, den ich niemals wieder vergessen werde: Umgeben von hohen, bewaldeten Bergen lag vor mir ein kleiner Naturhafen mit einer Schmalen Einfahrt. Eine Ort, der direkt in Tolkiens Mittelerde hätte liegen können. Der Wind außerhalb der Felsen kräftige Wind genügte hier gerade noch, um das Kielwasser hinter mir leicht zu kräuseln. Ich schlich auf eine flache Stelle am Ufer zu und genoß die friedliche Stille des Sees. Eine kleine Landzunge im südlichen Teil schien mir ein guter Platz für die Nacht zu sein, und ich ließ den Heckanker fallen, rollte die Genua ein und lies mich mit dem restlichen Schwung Richtung der Felsen treiben. Ein Satz an Land, etwas gegen den Bugkorb drücken, und schon konnte ich das Boot für die Nacht an einem Baum vertäuen. Wenig später dampfte neben mir eine Tasse frisch aufgebrühter Tee, und ich ließ den Tag noch einmal passieren.
Unterwegs hatte ich mit dem Segeln alle Hände voll zu tun, so dass ich die üblichen Notizen in meinem Logbuch nun am Abend erledigen musste. Einige Stichworte mit Kursen, Zeiten und Positionen waren alles, was ich im engen Fahrwasser der Schären zustande gebracht hatte. Aus diesen Stichwörtern formten sich nun langsam die Einträgen, die diesen Tag festhalten würden. Mitten unter ihnen stand ein Satz, den ich trotz all der Hektik sorgfältig ausgeschrieben hatte. Seine Buchstaben waren deutlicher geformt und erweckten eher den Eindruck wohl überlegter Wortwahl, als das Bild einer eiligen Randnotiz. Mit diesem Satz schloss ich den Eintrag im Logbuch für diesen Tag
„Ich bin nun seit einem Monat unterwegs, und noch keinen Tag hatte ich das Gefühl, Zeit vergeudet zu haben. Heute mittag habe ich mich festgelegt: So will ich eigentlich leben. Und dafür brauche ich einen Termin: Im Sommer 2010 beginnt eine wirklich große Segelreise.“
Ich verließ die kleine Kajüte, ging an Land und setzte mich auf den Felsen, hörte hunderte von Vögeln und Fröschen in diesem Paradies den Sonnenuntergang begrüßen und träumte mich an ferne Küsten und auf die offene See, bis auf einmal direkt neben mir eine Möwe landete. Weniger als einen Meter neben mir saß sie auf dem Stein und beäugte mich neugierig, als sei ich etwas, das hier nicht hergehört und das man erst noch erforschen müsste. „Hallo“, sagte ich leise, ohne mich zu bewegen. Der Vogel legte seinen Kopf fragend zur Seite, als wolle er mich auffordern meine Anwesenheit zu erklären. Doch mehr als eine freundliche Begrüßung mit einer Möwe auszutauschen, kam mir irgendwie selbst in dieser abgeschiedenen Ecke der schwedischen Schärenwelt etwas sonderlich vor und dazu war ich noch nicht lange genug einhand unterwegs. Etwa eine Minute lang sahen wir uns schweigend im roten Abendlicht an, dann sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Vogel gähnen. Den Schnabel weit aufreißend, gelangweilt gähnen. Zehn Sekunden später flog das Tier davon.
Vier Jahre vergingen und ich musste immer wieder schmunzelnd an diesen Moment denken, an dem ich eine Möwe offenbar so gelangweilt hatte. Im herbstlich grauen hamburger Berufsverkehr träumte ich mich auf dem Weg zur Arbeit wieder an diesen Ort. Doch diesmal schaute ich das Tier in meinen Gedanken nicht einfach nur an, sondern sagte leise: „Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Du hast nur noch ein Jahr, um Deinen Plan umzusetzen und Du bist seit damals kaum einen Schritt dichter.“ Und noch etwas drängte sich mir ins Bewustsein: „Ich kein Haus, keine Familie zu ernähren und keinen Hund, der zweimal täglich auszuführen ist. Wenn es Gründe gibt diese reise nicht jetzt zu machen, dann ist es lediglich fehlender Mut.“ Zwölf Stunden später traf ich mein Chefredakteur und erklärte ihm, dass er für meinen Posten bei segeln einen Nachfolger wird suchen müssen. präsentierte ihm meine ungewöhnliche Route. Er schien weniger von meinem Vorhaben überrascht zu sein, als ich es war: „Schon seit einigen Monaten habe ich damit gerechnet, dass Du wieder los willst.“ Mein Spiegelbild begrüsst mich seit diesem Tag jeden Morgen mit der Frage: „Ob Pinguine auch gähnen?“
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